Wolfsmagie (German Edition)
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»Die Öffnung zum Meer schafft die Möglichkeit einer großen Brutpopulation, was auch erklären würde, warum die Beschreibungen von Nessies Körperlänge zwischen drei bis vier Metern beziehungsweise zehn bis zwölf Metern variieren«, fuhr Dougal fort.
Kris drehte sich wieder zu ihrem Begleiter um. »Baby-Nessies.«
»Ja!« Dougal verlieh seinem Ausruf Nachdruck, indem er sein Glas in einem Zug leerte. Kris hatte bei ihrem aufgegeben.
Mit dem Gedanken spielend, den älteren Herrn einzuladen, sich zu ihnen zu setzen, drehte sie sich erneut zu ihm um, aber er war verschwunden.
»Klingt nach einer schlüssigen Theorie«, stellte sie fest.
»Aber wenn Geschöpfe von der Größe Nessies hineingelangen können, warum haben andere das dann nicht auch getan? Klar, sie würden im Süßwasser umkommen, aber dann würden Kadaver zurückbleiben. Irgendwo. Irgendwann.«
»Wenn Nessies wirklich rein- und rausschlüpfen würden, müsste sie dann nicht schon mal jemand im Meer gesichtet haben?«
»Schon, aber dort draußen würde man sie vermutlich für einen Wal, einen Delfin oder Kalmar halten.«
Er hatte recht. Die Menschen sahen oft das, was sie zu sehen glaubten, ob es nun real war oder Einbildung. Kris hatte das bei vielen ihrer Hoax-Hunters -Fälle erlebt. Wenn eine Einzelperson einen Geist, ein wildes Tier oder ein Monster sah, taten es alle anderen auch. Solange die Leute einen Wal erwarteten, würden sie keine Nessie sehen.
Und vice versa.
»Für mich läuft es auf folgende Frage hinaus«, fuhr Dougal fort. »Wenn Nessie seit vielen Jahrtausenden den Loch Ness bewohnt, warum hat es dann noch niemand nachgewiesen?«
Kris beherrschte die Rolle des Advocatus Diaboli besser als jede andere. »Vielleicht versteckt sie sich. Vielleicht will sie nicht gefangen, analysiert, untersucht und am Ende …« Sie zuckte die Achseln. »… seziert werden.«
Denn genau das würde passieren, sollte Nessie den Menschen tatsächlich ins Netz gehen. Zum Glück würde oder konnte sie das nicht.
Kris, die die Unterhaltung in vollen Zügen genoss, lehnte sich zurück, dabei erhaschte sie einen Blick auf den Raum hinter Dougal. Dort stand, halb verdeckt von mindestens einem Dutzend Gästen, der Mann, der sie letzte Nacht geküsst hatte.
Er sah nicht in ihre Richtung, sondern hatte die Augen abgewandt, doch dass er es war, wusste sie so sicher, wie sie wusste, dass sie Scotch Whisky zutiefst verabscheute.
Kris entschuldigte sich abrupt, schob ihren kaum angerührten Drink Dougal hin, dann hielt sie schnurstracks auf die Stelle zu, wo sie den mysteriösen Mann gesehen hatte.
Als sie dort ankam, war er verschwunden. Aber da sie nicht auf den Kopf gefallen war – zumindest nicht in letzter Zeit –, fand sie einen Hinterausgang und stahl sich nach draußen. Sollte er das auch getan haben, war er schnell wie ein Wiesel – wahlweise wie ein Phantom –, denn es war keine Spur von ihm zu entdecken.
Kris erwog, wieder nach drinnen zu gehen, doch stattdessen machte sie sich auf den Heimweg.
Die Nacht war klar und zauberhaft. Ein bisschen kühl zwar, doch das störte Kris nicht. Der Mond, der gestern noch voll gewesen war, leuchtete wie eine silberne Sonne, was ihr sehr gelegen kam, denn nachdem sie Drumnadrochit hinter sich zurückgelassen hatte, war er die einzige Lichtquelle, um ihr den Weg zu ihrem Cottage zu leuchten.
Sie bewegte sich vorsichtig durch die Felder, überwand eine Anhöhe und geriet in den Bann der schimmernden, strahlend weißen Schaumkronen auf den Wellen des Loch Ness, wurde näher gelockt von seltsamen kleinen Impulsen eines dunkleren Schemens, der durch das mondbeschienene Wasser wogte wie …
»Nessie«, keuchte sie.
Kris wusste, dass sich die schlingernden Buckel, die wie die Höcker einer Seeschlange aussahen, als Schatten, als Treibholz, als eine Kombination aus beidem oder als etwas vollkommen anderes entpuppen würden. Trotzdem überquerte sie die Straße und bahnte sich ihren Weg durch das kühle Gras, bis ans Ufer.
Wie erwartet wirkten die Buckel aus der Nähe nicht mehr so rund und höckerig, sondern flacher und holziger, als plötzlich das schillernde Mondlicht einen von ihnen direkt traf und etwas anstrahlte, das ein Astloch sein könnte, aber wie ein starrendes Auge funkelte.
Das löste bei Kris von Neuem das Gefühl aus, beobachtet zu werden. Sie drehte sich um, ließ den Blick über die Straße und die Baumreihe dahinter schweifen.
Das Problem war … sie lief dabei weiter.
Und
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