Wolfsmagie (German Edition)
Was die Situation noch verschlimmern würde.
»Ich laufe ins Dorf und alarmiere die Polizei«, verkündete er. »Wirst du solange zurechtkommen?«
Kris zögerte, dabei studierte sie sein Gesicht, als könnte sie in seinen Kopf blicken und alle seine Geheimnisse entdecken. Aber Liam wusste es besser. Seit Jahren hatte niemand mehr seine Geheimnisse entdeckt.
»Kris«, sagte er ruhig, als sie ihn weiter anstarrte, ohne zu antworten.
Sie blinzelte. »Mir geht es gut. Sehr viel besser jedenfalls, als es dieses Mädchen je wieder von sich behaupten kann.«
»Ich beeile mich.« Liam wandte sich zum Gehen, als Kris ihn aufhielt, indem sie ihm die Hand auf den Arm legte.
»Woher kennst du meinen Namen?«
» Ghràidh «, murmelte er. »Manche sagen mir nach, allwissend zu sein.«
Kris starrte dem mysteriösen Mann nach, bis er eins mit der Dunkelheit wurde. Was hatte er bloß an sich, das jeden klaren Gedanken in ihrem Kopf auslöschte?
Um ein Haar hätte er sie ein zweites Mal geküsst. Sie hatte die Absicht in seinen wunderschönen blauen Augen gesehen, es an der leichten Beschleunigung seines Atmens gemerkt, es in seiner Berührung gefühlt. Doch noch überraschender als seine Absicht war ihr Verlangen nach diesem Kuss.
Sie hätte ihn stärker bedrängen sollen – in Bezug auf seinen Namen, auf eine Erklärung, woher er den ihren kannte. Aber es war ihr taktlos vorgekommen, mit dem toten Mädchen zu ihren Füßen. Es gab wichtigere Belange als ihre Namen.
Ein eisiger, feuchtkalter Finger schien über ihre Wange zu streichen. Dichter Nebel hatte sich gebildet; er hing über dem Loch Ness und versperrte die Sicht auf das gegenüberliegende Ufer. Der Wind trieb ihn in ihre Richtung, sodass sich feiner Dunst auf ihrer Haut und ihrem Haar absetzte.
»Wir sehen in einen dunklen Spiegel und erblicken nur rätselhafte Umrisse«, murmelte sie. Sie hatte diese Phrase immer gemocht, sie bis jetzt aber nie richtig verstanden. Doch als sie nun durch den Dunstschleier das tote Mädchen betrachtete, war es, als würde sie in einen dunklen Spiegel blicken.
»Erster Korintherbrief.«
Die Stimme war fest und autoritär. Die Stimme Gottes.
Vorausgesetzt, Gott sprach mit einem schweren deutschen Akzent.
Die lange, schmale Silhouette eines Mannes bewegte sich wabernd in den Tiefen des Nebels, während die Stimme hinzusetzte: »Wir sehen in einen dunklen Spiegel und erblicken nur rätselhafte Umrisse, aber dann schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, aber dann werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.«
Der alte Mann, der sie im Pub angestarrt hatte, schälte sich aus der Finsternis. Er verneigte sich – eine Geste aus der Alten Welt, die in dieser alten Welt völlig heimisch zu sein schien.
»Kapitel dreizehn, Vers zwölf«, erklärte er. »Überaus passend. Bald schon werden Sie nicht mehr unvollkommen erkennen.«
»Was erkennen?«, fragte Kris. »Wie sind Sie hierhergekommen?«
»Zu Fuß, Miss Daniels. Genau wie Sie.«
Auch er kannte ihren Namen. Hatten sie ihn an den Himmel geschrieben, als sie gerade nicht hingeguckt hatte?
»Sie sind mir gefolgt?«
»Wieso sollte ich dergleichen tun?«
Sich plötzlich daran erinnernd, dass der alte Mann die Bar vor ihr verlassen hatte, sah sie zu dem Mädchen. Er war ihr nicht gefolgt; er war vor ihr hier gewesen. Was hatte er vor ihrem Eintreffen getan?
Fluchtbereit setzte Kris einen Fuß zurück, als der Alte mit überraschender Flinkheit und furchterregend starken, knochigen Fingern ihren Ellbogen umfasste. »Das wollen Sie nicht wirklich tun«, brummte er.
Sie zog an ihrem Arm. Anstatt sie loszulassen, schob er die freie Hand in seinen voluminösen Mantel und brachte eine Pistole zum Vorschein.
»Ich habe weder die Zeit noch die Geduld, mit Ihnen zu diskutieren.«
Er gab sie frei, beließ die Waffe jedoch, wo sie war, nämlich auf Kris’ Sternum gerichtet. Sein Mantel hatte sich an seiner Brust in etwas verheddert, das ein Patronengurt zu sein schien. Kris bemerkte eine zweite Pistole, die im lockeren Bund seiner Hose steckte.
Wer war dieser Kerl?
»Die Polizei dürfte jeden Moment eintreffen«, fuhr er fort, »und ich würde es vorziehen, dann nicht mehr hier zu sein.«
Kris massierte sich den Ellbogen, wo am Morgen vermutlich der Abdruck seiner klauenartigen Finger prangen würde, und wandte den Blick von der Leiche über die Schusswaffe zu ihm. »Darauf würde ich wetten.«
Seine
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