Wolfsmagie (German Edition)
spielte, keinem dieser Tiere entsprach.
Kris blickte sich um. Sie waren völlig allein. Keine Autos auf der Straße. Keine Wanderer in den Bergen. Keine Boote, die in Sichtweite auf dem Wasser schaukelten.
»Wenn das nicht passt«, murmelte sie. Sie hatte nicht nur keine Kamera, sondern auch keine Zeugen.
Die Kreatur trieb einfach dort im Wasser, und zwar näher am Ufer, als es einem Wesen dieser Größe hätte möglich sein dürfen. Obwohl Kris’ Füße bleischwer waren, zwang sie sie über die Straße und die leichte Böschung zum See hinunter, jede Sekunde damit rechnend, dass das Ungeheuer abtauchen würde. Doch das tat es nicht.
Kris erreichte den Strand. Hatte Nessie sich jemals so lange gezeigt? Falls ja, gab es darüber keine Berichte. Kris fragte sich unwillkürlich, ob womöglich jeder, der dem Ungetüm derart nahe kam, ein unfreiwilliges Bad nahm und nie wieder auftauchte.
Vorsichtig begann sie, die Böschung wieder hochzuklettern, bloß weg von der Kreatur. Ihr Herz dröhnte so laut, dass sie befürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Ihr Gesicht war heiß, ihre Hände eiskalt. Ihr war speiübel.
Den Kopf hochgereckt, die Augen, die in derselben Farbe glitzerten wie ihre grauschwarze Haut, unverwandt auf Kris gerichtet, trieb Nessie weiter gemächlich durch die Fluten. Dann drehte sie ab – war es überhaupt eine sie? Aber wenn nicht, warum dann Nessie ? – und schlug mit einer Flosse, als wollte sie etwas in Kris’ Richtung schieben. Langsam und anmutig glitt das Seeungeheuer davon, dabei erzeugte es eine Welle, die ein auf und ab tanzendes Objekt zum Ufer trug.
Wie unter Hypnose vergaß Kris ihr Fluchtvorhaben und lief zurück, bis sie am glitschigen Uferrand fast ausgerutscht wäre.
»Jamaica?«, wisperte sie.
Nessie neigte den Kopf, als wäre ihr dieser Name vertraut. Dann tauchte sie ab, verschwand aus Kris’ Blickfeld, ohne auch nur eine Kräuselung zu erzeugen, die bewiesen hätte, dass sie je da gewesen war.
Etwas prallte gegen Kris’ Zehen. Sie guckte nach unten.
Und stieß einen Schrei aus.
21
Eine Stunde später war Kris noch immer am Seeufer, wenn auch nicht mehr allein.
Obwohl sie nur ein einziges Mal geschrien hatte, schämte sie sich dafür. Wenn sie schon schreien musste, wäre es nur logisch, dass sie es bei ihrem ersten Leichenfund getan hätte, nicht erst bei ihrem zweiten. Aber als sie nach unten gesehen hatte, hatte die Hand des toten Mädchens auf ihrem Schuh gelegen, und da hatte sie sich einfach nicht beherrschen können.
Ein vorbeikommender Autofahrer hatte Kris gehört und war ihr mit einem Montiereisen bewaffnet zu Hilfe geeilt. Alan Mac traf kurze Zeit später ein. Er bedachte Kris mit einem Blick, der leicht zu deuten war: Sie schon wieder?
Natürlich war es seltsam, dass sie eine Leiche nach der anderen fand. Doch das Allerseltsamste war, dass Nessie ihr diese gebracht hatte. Fast schien es, als habe sie damit sagen wollen: Siehst du? Ich war es nicht. Wäre ich es gewesen, warum würde ich dir dann den Beweis liefern?
Weil Ungeheuer ja immer derart rational dachten.
Ein hysterisches Kichern entschlüpfte Kris’ eiskalten Lippen. Sie stand unter Schock. Mal wieder. Zum Glück bewahrte der Mann, der auf ihren Schrei hin angerannt gekommen war, zusätzlich zu dem Montiereisen eine hübsche Karodecke in seinem Kofferraum auf. Kris zog sie enger um ihre Schultern und kauerte sich auf einen Stein.
Die örtliche Polizeidienststelle hatte das Gebiet abgesperrt und damit begonnen, es auf Spuren zu untersuchen. Auf der Straße hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die von mehreren Polizisten im Zaum gehalten wurde. Kris konnte nicht abschätzen, wie viel Zeit verstrichen war, bevor endlich der breite Schemen des Polizeichefs die Sonne verdunkelte.
»Lassen Sie mich raten. Sie waren nur ein bisschen spazieren, und siehe da – die nächste Leiche.«
Kris zögerte. Sollte sie das so stehen lassen? Oder ihm die Wahrheit beichten?
Dass ausgerechnet sie, die die Wahrheit immer höher geschätzt hatte als alles andere, nun in Erwägung zog, dem zuständigen Ermittlungsbeamten in einer Morduntersuchung eine Lüge aufzutischen, zeigte, wie weit sie sich von der Person entfernt hatte, die sie einmal gewesen war.
Ihr Blick huschte zu dem Arm, an dem sie Alan Macs Tätowierung gesehen hatte und der nun in einem Sakko steckte. Er war entweder ein Wächter oder ein Gestaltwandler. Falls Ersteres zutraf, sollte sie ihm anvertrauen, dass Nessie ihr die Tote gebracht
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