Wolfsmondnacht (German Edition)
tut mir leid. Wenn ich etwas tun kann …«
»Ich kann nicht vertrauen. Noch nicht.« Sie befüllte eine Suppentasse, nahm einen Löffel und brachte ihm beides. Dabei vermied sie, in seine Augen zu sehen. Sie wollte ihm nahe sein, andererseits befürchtete sie, wieder benutzt und verlassen zu werden. Sie war älter als damals, sie sollte jetzt auch klüger sein.
»Merci, Céleste.« Er beugte sich leicht vor. »Das riecht köstlich.«
»Es ist nur eine einfache Fleischbrühe.«
Er nahm einen Löffel davon. »Es schmeckt so gut, wie es riecht. Komm, setze dich zu mir, Céleste.«
Auch sie nahm sich eine Tasse mit Suppe und setzte sich neben ihn, aß jedoch ohne Appetit. Jeannes Verschwinden beschäftigte sie in beinahe jeder wachen Minute.
Mortemard griff nach ihrer Hand, doch sie entzog sie ihm.
»Es tut mir leid«, sagte sie, »doch ich kann nicht vertrauen. Du kommst zu spät. Mein Leben ist vorbei.«
»Du bist jung und …«
Energisch schüttelte sie den Kopf. »Darum geht es nicht.«
»Jeanne?«
Sie nickte stumm. Lustlos rührte sie in der Fleischbrühe, ohne viel zu sich zu nehmen. Ihre Hand verkrampfte sich um den Löffel. Sie bemerkte, wie er sie besorgt musterte.
»Sie ist nicht die Einzige, die schlafwandelt. Das kommt häufiger vor, als du denkst. Selbst ich habe es als Kind … Celeste? Du siehst so blass aus. Comment Vas? «
Célestes Selbstbeherrschung zerbarst. »Wie soll es mir gehen, wenn mein Kind krank oder gar tot ist?«
»Jeanne tot? Was ist geschehen?«
»Jeanne hat bereits im Oktober schlafgewandelt. Ich hätte dir früher schreiben sollen und ich hätte ihr Fenster verschließen müssen, nicht nur ihre Türe.« Céleste strich sich eine Träne aus dem Gesicht. »Jeanne ist verschwunden ohne jede Spur und sie jagen einen loup-garou , der im Nachbardorf Kinder tötet. Kinder in ihrem Alter. Verstehst du das?«
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass ihr hier auch loup-garous habt?«
Erstaunt riss sie die Augen auf. »Auch? Soll das heißen, es gibt in Paris auch welche?«
Er nickte. »Ich war dort einem von ihnen auf der Spur.«
Céleste starrte ihn ungläubig an. Es dauerte, bis sie wieder Worte fand. »Du jagst sie?« Das Misstrauen, das sie empfand, schwang in ihren Worten mit. Sicher vernahm er es auch.
»Ich jage und töte sie nicht, solange sie niemandem etwas tun. Ich versuche, sie zu erforschen. Sie scheinen gegen viele Krankheiten resistent zu sein, denen die Menschen erliegen.«
»Warum töten sie die Menschen?« Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Oh, ich habe solche Angst um Jeanne.«
»Wie ist es geschehen?«
»Ich schrieb dir doch, dass Jeanne in der Nacht des Michaelstages und am achten November schlafwandelte. Was ich verschwieg, war, dass ich sie im Wald zu La Serre und auf dem Territorium von Châtenois fand, beide Male nackt und blutüberströmt, unweit von den Orten, wo die Kinder starben, in denselben Nächten.«
Jetzt war es heraus. Entweder er nahm es an und stand zu ihr oder sie musste etwas gegen ihn unternehmen. Céleste wagte es nicht, den Gedanken zu vollenden. Sie wischte ihre Tränen mit dem Handrücken weg.
»Abgefressen«, sagte sie schluchzend. »Die Knochen ihrer Arme und Beine lagen bloß. Beim letzten Mal fehlte ein ganzes Bein.«
Mortemard erbleichte. »Oh, mon dieu! Wie überaus schrecklich!«
Völlig überrascht war sie, als er sie in seine Arme zog. Trost suchend lehnte sie ihren Kopf an seine Brust. In diesem Moment war es ihr gleichgültig, was irgendjemand über sie denken mochte.
»Wo ist dies geschehen?«
»Im Wiesenland de la Pouppe, auf dem Territorium von Authume und Châtenois. Auch dort gibt es einen Wald.«
Der Wald, der auch an den Nordosten Dôles angrenzte. Der Wald, in dem Jeanne in derselben Nacht verschwunden war. Céleste behielt diese Gedanken jedoch für sich. Statt dessen sagte sie: »Es hätte auch Jeanne sein können. Jeanne tot in ihrem eigenen Blut.« Sie wagte die letzte Befürchtung nicht auszusprechen: dass Jeanne ein loup-garou war und womöglich die Mörderin der anderen Kinder.
»Keine Verdächtigen bisher?«
»Doch, Gilles Garnier, den Eremiten von Sr. Bonnot.«
»Warum haben sie ihn noch nicht festgenommen?«
»Ich weiß nicht.« Céleste hob die Schultern. »Vermutlich, weil die Beweise fehlen. Am 8. November gab es drei Augenzeugen. Einer glaubte, einen Dämon gesehen zu haben, einer einen Wolf und der dritte wollte eine Ähnlichkeit der Kreatur zu Monsieur Garnier erkannt haben. Das
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