Wolfsmondnacht (German Edition)
als sie sich eine halbe Stunde später niederlegte, verfolgte sie dieser Anblick und ließ auch nicht von ihr ab in ihren Träumen. Sie sah, wie die Kreatur sich verwandelte. Ihre deformierten Glieder schrumpften, das Haar zog sich zurück in die Haut, unter der sich Knochen verschoben, brachen und sich neu zusammenfügten.
Sie wurde menschlich, doch der Anblick nicht weniger furchtbar als zuvor. Vor ihr stand Jeanne, die nackte und blutbeschmierte Jeanne, doch diesmal war es nicht ihr eigenes Blut, das ihren Leib bedeckte. Es war das eines anderen Kindes, dessen Überreste im Unterholz ruhten. Céleste schrie noch, als sie schon lange wach war. Zitternd erhob sie sich, um den Schweiß von ihrem Leib zu waschen und die Albtraumbilder aus ihrem Geist zu bekommen.
In manchen Nächten war es gut, dass Tante Camille taub war. Doch wäre die Kreatur wirklich bei ihr gewesen, läge sie jetzt tot in ihrem Bett und Camille keine drei Räume neben ihr und hätte nichts davon mitbekommen, bevor nicht auch die Bestie zu ihr gekommen wäre.
In den folgenden Tagen suchte Céleste den Wald ab, doch sie fand keine Spur von Jeanne. Am 14. November entdeckte jemand die Leiche eines Zehnjährigen im Wald. Eines seiner Beine war abgerissen. Von da an blieb Céleste in ihrem Haus, doch die Unsicherheit und Angst um Jeanne ließen ihr keine Ruhe.
Der Nachmittag des ersten Dezember brachte Hoffnung. Ein Reiter erschien am Horizont. Ein Fremder, ein Reisender, wie so manche in den vergangenen Tagen in die Stadt gekommen waren. Dieser jedoch ritt nicht an ihrem Haus vorbei. Trotz der Entfernung erkannte Céleste ihn. Er war es tatsächlich! Sie stellte die Eimer wieder neben den Brunnen und rannte ihm entgegen. Er schwang sich vom Pferd.
»Wie froh ich bin, dass du endlich da bist.« Sie hauchte ihm Küsse auf beide Wangen, eine Geste, die Donatien Mortemard mit höchster Zärtlichkeit erwiderte.
»Bonjour, Céleste. Danke für deine Briefe.«
»Ich habe zu danken. Doch komm herein. Du bist sicher erschöpft von der Reise und hast Hunger.«
»Ich muss mein Gepäck zuerst abladen.« Er lud eine kleinere Truhe und eine schmale Tasche von seinem Pferd und kümmerte sich anschließend um das Tier. Céleste brachte Futter und befüllte die Tränke mit Brunnenwasser. Anschließend trugen sie das Gepäck ins Gästezimmer. Tante Camille war nirgendwo zu sehen. Natürlich hatte sie sie über ihren Gast informiert. Tante Camille war nicht sehr begeistert davon, denn für gewöhnlich gab sie sich mit niemandem außer ein paar Weibern aus ihrem Bekanntenkreis ab und mit Männern schon gar nicht. Céleste vermutete, dass sie in ihrer kurzen Ehe keine guten Erfahrungen gemacht hatte.
Sie betraten die Küche. Céleste schenkte ihm Rotwein ein und erhitzte Suppe auf dem Herd.
»Merci.« Mortemard nahm den Becher und trank durstig. »Ich bin froh, endlich hier zu sein.«
»Bist du sehr erschöpft?«
»Es geht. Ich habe Pausen eingelegt und das Pferd mehrfach gewechselt.«
Céleste spürte seine Blicke auf sich, als sie die Suppe umrührte. Sie brach Brot für ihn und schnitt ihm ein Stück Compté ab vom großen Käselaib aus ihrer Vorratskammer. Dankend nahm er beides entgegen und aß es sogleich.
»Ihr habt köstlichen Käse hier. Er nimmt es ohne Weiteres mit den unzähligen Käsesorten Frankreichs auf.«
Céleste lächelte. »Der Compté wird hier schon seit vielen Jahrhunderten hergestellt.«
»Hast du jemals überlegt, wieder zurück nach Frankreich zu gehen?«
»Ich bin hier aufgewachsen. Es ist eine schöne Gegend. Und du hast Frankreich ja selbst verlassen.«
»Ja, das habe ich, doch nur zu einem höheren Zweck.«
»Du vermisst Paris?«
»Manchmal.«
»Es ist ja nicht gänzlich verloren.«
» Non , das ist es nicht.«
Céleste rührte noch einmal die Suppe um, die zu kochen begonnen hatte. Ihr Duft erfüllte den Raum.
»Gibt es einen Mann in deinem Leben?«
Beinahe wäre Céleste der Suppenlöffel aus der Hand gefallen, so unerwartet kam die Frage für sie.
»Nicht mehr seit Jeannes Vater. Er hat mich vor ihrer Geburt verlassen.«
»Das wusste ich nicht. Es tut mir leid.«
»Das muss es nicht. Ich war dumm und naiv damals. Ich hätte mich mit keinem Mann einlassen sollen.«
»Nicht alle sind so.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich vertraue keinem Mann mehr. Jeanne ist mein Leben. Für sie muss ich sorgen. Ich habe versagt.« Bitterkeit lag in ihren Worten und in ihrem Blick.
Er schluckte. »Verzeiht mir bitte. Es
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