Wolfsmondnacht (German Edition)
Untier wandte den Kopf in ihre Richtung und starrte Céleste an. Sie erkannte ihren eigenen Tod in den Augen der Kreatur.
Mit schweißnasser Hand umfasste sie den Messergriff fester und betete lautlos. Man soll nicht rennen, wenn ein Raubtier einen erblickt, sagten die Alten. Diese hatten leicht zu reden, saßen sie doch am Feuer ihrer Stuben und keinem loup-garou von Angesicht zu schauderlichem Angesicht.
Céleste vermied den Augenkontakt und wollte langsam rückwärtsgehen, da verfing sich ihr Gewand in einem Brombeerbusch. Sie wollte sich losreißen, doch die Dornen hielten sie unnachgiebig fest. Céleste hackte mit dem Messer auf den Busch ein. Das Wesen kam langsam näher. Geifer tropfte von den Fangzähnen in seinem aufgerissenen Maul. Das Messer vor sich erhoben, erwartete Céleste den Tod.
Ein lautes Geräusch ertönte. Céleste zuckte zusammen, doch der Schuss galt nicht ihr. Blut spritzte aus einer Wunde in der Brust der Kreatur, die aufheulte wie tausend gepeinigte Seelen. Jegliche Härchen auf Célestes Leib stellte sich auf. Ihr Herz klopfte vor Angst so schnell, dass es wehtat. Sie glaubte, ihre Beine müssten unter ihr nachgeben, doch sie nahm alle ihre Selbstbeherrschung zusammen.
Zu ihrer Verwunderung und noch viel mehr zu ihrem Entsetzen ging das Wesen trotz der schweren Verletzung nicht zu Boden. Es änderte lediglich seine Richtung und verschwand im Unterholz. Céleste vernahm gedämpfte Männerstimmen. Die Jäger!
Mon dieu! Man durfte sie hier nicht finden. Gar würde man sie für den loup-garou halten. Als Französin mit einem unehelichen Kind war sie den Dorfbewohnern ohnehin suspekt. Scheiterhaufen brannten allerorts in der Franche-Compté.
Sie verschwand ebenfalls im Unterholz, doch in entgegengesetzter Richtung zum loup-garou . Drei Büsche standen dicht beieinander. Sie konnte sich gerade noch hockend darin verbergen, bevor die Jäger kamen.
Aus ihrem Versteck beobachtete sie die Männer. Bellen erklang. Oh, Mon dieu! Sie hatten Hunde dabei! Ein großer dunkler Hund blähte seine Nüstern. Gleich würde er sie entdecken. Es war vorbei, aus und vorbei, für sie und noch viel mehr für Jeanne.
Flach atmend, die Hand auf die Brust gepresst, wo ihr Herz vor Panik wild schlug, starrte sie dem Hund entgegen. Der Hund jedoch wandte sich in die andere Richtung, dorthin, wo der loup-garou verschwunden war. Die Männer folgten ihm.
Céleste verblieb in ihrem Versteck, bis die Jäger und ihr Hund außerhalb ihrer Hörweite waren. Als sie sich aus den Büschen erhob, zitterte sie am gesamten Leib. Fröstelnd zog sie ihren Mantel enger.
Céleste versuchte sich zu orientieren, doch alles drehte sich um sie. Die Sorge um Jeanne, der Anblick der Kreatur und die Jäger mit den Hunden. Es war einfach zu viel für sie gewesen. Von Angst gepeitscht, trieb sie sich dennoch weiter. Vereinzelt fand sie Blut auf den Zweigen und den verdorrten Blättern am Waldboden, doch keine Spur von Jeanne.
Ihre Füße und Hände wurden kalt. Ihr Herz schlug schnell. Der Nebel legte sich auf ihr Haar und ließ ihr Gewand klamm werden. Sie strich sich die feuchten Strähnen aus dem Gesicht. Ihre Hände waren inzwischen beinahe gefühllos von der Nachtkühle.
Mehrfach glitt sie auf den rutschigen, toten Blättern aus. Einmal fiel sie gar hin. Sie rappelte sich wieder auf trieb sich selbst immer weiter an, doch sie fand Jeanne nicht. Es war sinnlos. Alles war sinnlos. Ihre Tränen vermischten sich mit der Nebelfeuchte und verschleierten ihre Sicht.
Erschöpft und verzweifelt kehrte sie zu dem Haus zurück, das ihr ein Dach über den Kopf bot, doch kein Zuhause. Sie irrte durch leere Räume, die trostlos waren ohne Jeanne. Sie war nicht zurückgekehrt. Sie würde niemals zurückkehren, denn die abscheuliche Kreatur hatte sie erwischt.
All die geweinten und ungeweinten Tränen brannten in Célestes Augen. Sie hatte versagt. Als Mensch und als Mutter. Schluchzend sank sie nieder auf Jeannes Bett, auf den Fleck getrockneten Blutes, Jeannes Blut. Tränenblind starrte sie zum Fenster. Wie war Jeanne nur dort runtergekommen, ohne sich zu verletzen oder hatte sie sich gar verletzt?
Jeanne war tot oder würde es bald sein, und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Sie begab sich in ihren Raum. Dort verfasste sie mit bebenden Händen zwei Briefe in ihrer ungelenken, selten verwendeten Schrift. Papier und Feder verschwammen vor ihren Augen. Im Geiste sah sie die Kreatur, die sie im Wald erblickt hatte, vor sich.
Selbst
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