Wolfsmondnacht (German Edition)
andere keine Aufmerksamkeit schenkten. Der Einsiedler mochte vielleicht nicht der Täter sein, doch vielleicht wusste er etwas.
Donatien sah die Lichter von Châtenois, doch ließ er es rechts liegen. Er ritt vorsichtiger, denn der Boden wurde zunehmend morastiger, je näher er seinem Ziel kam. Es lag fernab jeder Straße und war nur über einen Pfad zugänglich. Farne und Gestrüpp wucherten bereits darüber, denn selten wurde er benutzt. Gilles Garnier schien nicht allzu beliebt zu sein, wie er von einem Wandersmann, den er nach dem Weg fragte, erfuhr. Er war den Bewohnern von Amange suspekt, da er sich der Zivilisation fernhielt, sodass man kaum etwas über ihn wusste.
Der Pfad wurde immer unwegsamer. Donatien hielt sein Pferd an. Er würde den Rest des Weges zu Fuß gehen. Weit war es ja nicht mehr. Nach wenigen Minuten erreichte er eine Hütte.
Donatien trat näher. Mon dieu! Das Dach sah aus, als würde es jeden Moment einbrechen. Es war mit Gras und Torf bedeckt. Sicherlich regnete es hinein. Die Wände der Hütte – als Haus konnte er es beim besten Willen nicht bezeichnen – waren von Farnen zugewachsen.
Dies sollte also die Eremitage von Sr. Bonnot sein. Donatien stieg über den zerbrochenen Gartenzaun und fragte sich, ob hier überhaupt jemand wohnte.
Doch der Unrat, der im Garten über das Unkraut quoll, stammte eindeutig nicht von Tieren. Splitter eines Krugs lagen dort. Eine Hose war achtlos hingeworfen. Donatien betrachtete sie neugierig. Lange konnte sie noch nicht hier liegen, denn sie stockte noch nicht. Gehörte sie Gilles Garnier? Sie war zerfetzt, doch nicht durch Abnutzung, sondern es sah eher nach roher Gewalt aus. Was ging hier vor sich?
Donatien klopfte an die schiefe Tür. Würde das Haus einstürzen, wenn er es betrat? Niemand kam. Nichts rührte sich. Donatien pochte abermals gegen die Tür. Das Holz war zwar alt, doch schien es wider Erwarten noch recht stabil zu sein. Donatien drückte vorsichtig dagegen. Mit einem Quietschen schwang sie auf. Drinnen war es finster. Offenbar war niemand zu Hause. Ein feiner Rauchgeruch kam ihm vom Kamin entgegen, in dem noch Glut war. Wer auch immer sich hier aufgehalten hatte, war noch nicht lange fort.
Auch hier war alles voller Unrat. Donatiens Blick fiel auf Knochen, die sich in einer Holzschale auf dem Tisch befanden. Irgendwas war daran merkwürdig. Er hob die Knochen auf und verfluchte zum ersten Mal in seinem Leben seine Kenntnisse der Anatomie.
Crus , der menschliche Unterschenkelknochen eines Kindes. Patella , die Kniescheibe
Die Fibula , das Wadenbein, noch fest verbunden mit der Tibia , dem Schienbein. Lateinische Namen, an die er sich festhielt, ein Bollwerk gegen das in seinen Verstand kriechende Entsetzen.
Mit dem Blick des Anatomen untersuchte er den Fund weiter. Der Malleolus lateralis , der Außenknöchel, war gebrochen. Unter Donatiens Händen löste er sich ganz von der Fibula . Der Fuß fehlte komplett. Donatien tastete über die sehr markante Spitze des Wadenbeins, die Apex capitis fibulae . Nagespuren waren an den Knochen. Ein Fetzen Fleisch hing daran. Es war noch weich. Das Kind war noch nicht lange tot.
Hatte Garnier sie gefangen gehalten, bevor er sie tötete? Jeanne über einen Monat in der Gewalt dieser Kreatur? Entsetzen rann wie Eiswasser über Donatiens Rücken. Er hatte Jeanne nicht gekannt, doch schmerzte es ihn zu wissen, wie sie leiden hatte müssen und welche Pein dies Céleste bereiten würde. Was war Gilles Garnier nur für eine Kreatur? Ein loup-garou war kein Wolf, sondern ein Dämon. Ein Wolf quälte seine Beute nicht. Er tötete, um zu überleben.
Tränen stahlen sich aus Donatiens Augen. Das arme Kind! Es musste eine Höllenangst durchgestanden haben. Welchen Verlust musste Céleste hinnehmen? Würde sie es überwinden? Schlimm, dass er der Überbringer dieser Unglücksbotschaft sein würde. Welch grausames Schicksal! Vorsichtig legte er die Kinderknochen zurück, doch die Erinnerung an sie würde ihn verfolgen.
Es war eine Sache, an zu Zwecken der Anatomieforschung beschafften Toten herumzuschneiden, doch eine andere, die Knochen eines ermordeten Kindes in Händen zu halten. Donatien fuhr vor Schreck zusammen, als die Tür ins Schloss fiel. Fest umklammerte er das Macuahuitl und tastete mit der anderen Hand nach dem Obsidianmesser. Keineswegs wollte er Jeannes Schicksal teilen.
Donatien vernahm keinen Laut. Er schlich sich zum Fenster und spähte hinaus. Nichts war zu sehen. Wobei er keine
Weitere Kostenlose Bücher