Wolfsmondnacht (German Edition)
Waffen. Überall blitzten Messergriffe, Arkebusen, Hellebarden und Piken. So viele Männer und Waffen gegen ein einziges Tier.
Jean-François kämpfte, um sich zu befreien, doch an jedem seiner Arme hielten ihn jetzt zwei Männer, die ihn wegzerrten. Nein, es waren keine Männer. Sie waren die loup-garous , nicht der weiße Wolf! Oder etwa doch? Warum bekämpften sie sich gegenseitig und überließen einen der ihren dem Feind?
Sie verbanden ihm die Augen, knebelten ihn und brachten ihn in eine Höhle oder etwas ähnlichem, was er am hohlen Klang ihrer Schritte erkannte. Es roch modrig nach abgestandener Luft und nach der Asche von Fackeln. Er vernahm das Knistern der Flammen und spürte ihre Hitze trotz der Entfernung.
Sie legten ihm Eisenschellen um die Hand- und Fußgelenke. Kalt und feucht fühlte sich das Metall auf seiner Haut an. Als sie von ihm abließen, riss er sich den Knebel und die Augenbinde herunter und blinzelte in das Licht einer Fackel, die sich in einer Wandhalterung befand. Wütend zog er an seinen Fesseln.
»Sie sind fest in der Wand verankert, Bluttrinker. Schon deine Kräfte. Du wirst sie benötigen.«
Jean-François blinzelte. Jetzt wusste er, an wen ihm diese Stimme erinnerte und wo er sie das letzte Mal vernommen hatte.
»Émile, du bist hier?«
Émile streifte seine Kapuze zurück. »Ich stamme zufällig aus Athume. Hat dir deine Mutter nie davon erzählt?«
»Sie sprach selten über ihre Zeit in Dôle.« Suzettes Familie stammte von dort.
Jean-François hob seine kettenbehangenen Arme. »Was soll dies hier bedeuten?«
Émile antwortete nicht. Lächelnd zog er einen Dolch. Ein Lichtfunken tanzte über die scharfglänzende, blutbesudelte Klinge, als er sie bewegte. Jean-François erkannte den Dolch wieder. Mit ihm hatte er den weißen Wolf verletzt. Sein Blut klebte noch daran. Womöglich war er bereits tot. Es war zu hoffen, denn die Menschen würden ihn sonst lebendig verbrennen.
»Ich habe die Klinge für dich geschliffen, mein Sohn .« Spöttisch klangen diese beiden letzten Worte.
»Du bist nicht mein Vater, worüber ich froh bin.«
Émile lächelte. »Aber das weiß ich doch oder hältst du mich für einen völligen Narren?« Er trat mit dem Dolch näher.
»Willst du mich töten?«
»Nicht so schnell, Stiefsohn.« Émile verbreiterte sein Lächeln. Jean-François sah, wie Émiles Fangzähne wuchsen.
»Du bist Blut von ihrem Blut.« Émile beugte sich dicht über Jean-François. »Fleisch von seinem Fleisch.« Émiles süßlicher Blutatem schwappte ihm entgegen.
»Du kennst meinen Vater?«
»Ja, und ich werde ihn zerstören, nachdem ich dich vernichtet habe.«
»Warum? Was habe ich dir getan?«
»Du lebst. Darin liegt deine Schuld. Und du bist wie er.« Émile führte das Messer quer über Jean-François’ Brust, durchtrennte Wams und Hemd und Haut. Émile riss die Kleidung entzwei. Eine Blutspur zog sich über seine Haut. Tropfen rannen herab, die Émile ableckte.
»Dein Blut schmeckt anders als das der Menschen. Lassen wir noch mehr davon fließen.«
Jean-François fühlte Beklemmung. Die Wunde brannte. Sie heilte bereits, doch Émile zog sie erneut mit dem Dolch nach. Mehr Blut floss heraus.
Émile lachte. »Blute für mich, schreie für mich und dann sterbe für mich.«
»Du willst dich an Suzette rächen, weil sie eine Hure war, nicht wahr? Doch sie ist tot.«
»Rache. Was ist Rache? Ich hätte mich an ihr rächen sollen. Sie nahm mir meine Familie und meinen Status. Sie nahm mir alles. Ich war ein Ausgestoßener, verlassen und vergessen. Zwanzig Jahre lang in Verbannung. Nichts hatte ich mehr. Nichts. Verstehst du?« Ein getriebener Ausdruck lag in Émiles Augen.
»Deine Familie?«
Émile neigte den Kopf zur Seite. Ein irres Grinsen lag auf seinem Mund. Die Reißzähne wirkten grotesk. Er streckte eine Hand aus, die in die Länge wuchs zu krallenbewehrten Klauen. Das Haar auf seinem Handrücken wurde dichter, doch der Rest von ihm blieb menschlich.
»Ich bin einer von ihnen, von der königlichen Familie, so wie deine Pamina.«
»Ist sie der weiße Wolf?«
Émile nickte. »Sie war es, denn bald wird sie tot sein. Sie hat gegen unsere Gesetze verstoßen.« Émile betrachtete die blutige Klinge. »Für die Menschen sind wir nichts als Tiere, doch selbst bei uns wird Gattenmord als ein Gräuel angesehen.« Émile beugte sich leicht vor. Er schnitt schnell hintereinander einige Linien in Jean-François’ Arm. Blut rann über seine Haut und tropfte auf den
Weitere Kostenlose Bücher