Wolfsmondnacht (German Edition)
entgegenströmte. Er hatte sie nicht belogen. Er ließ sie tatsächlich frei. Seltsamer Kerl. Erst hielt er sie gefangen und dann ließ er sie nach Wochen einfach laufen. Eigentlich hielt nicht er sie gefangen, sondern die anderen Männer. Einige davon waren sehr seltsam, doch dieser hier war fast nett.
Der Mann berührte sie am Arm und maß sie mit einem seltsamen Blick. »Gehe, Kleines. Lauf so schnell du kannst. Meide Wege und Dörfer, bis du zu Hause bist.« Er hob seinen Arm und deutete ihr den Weg. »Dôle liegt in dieser Richtung.«
Sie stand stocksteif vor Überraschung, als er sie auf die Stirn küsste.
»Lauf jetzt und sag Céleste, dass es mir leidtut.«
Verwirrt sah sie ihn an. Woher wusste er Mamans Namen? Und von wem sollte sie diese Worte Maman ausrichten?
»Wie ist Ihr Name?«
»Mathis. Sie kennt mich. Geh jetzt. Schnell, bevor die anderen kommen.«
Jeanne lief los. Als sie sich umblickte, war Mathis verschwunden. Auch das kleine Dorf, in dem sie die letzten Wochen verbracht hatte, verschwand bald darauf im Dickicht wie ein verwunschener Ort.
Jeanne rannte. Es war ein herrliches Gefühl, endlich wieder in Freiheit zu sein, den Waldboden unter ihren Füßen und den Wind im Haar zu spüren. Bald war sie wieder zu Hause bei Maman und Tante Camille. Sie konnte es kaum erwarten.
In ihrer anderen Form war sie schneller. Mittlerweile hatte sie auch nicht mehr diese Angst vor der Verwandlung. Schnell streifte sie das Kleid ab, das man ihr gegeben hatte. Es war ohnehin kratzig auf der Haut. Nicht so wie die Kleider, die Maman ihr genäht hatte. Dennoch band sie es locker um ihren Bauch, um es später wieder anziehen zu können. Was würde Tante Camille schimpfen, wenn sie nackt heimkäme!
Noch immer war die Verwandlung ungewohnt für sie, dieses Kribbeln, das durch ihren Leib fuhr. Ein Schmerz ging damit einher, doch er war auszuhalten. Am Schlimmsten hatte sie während der ersten Male die Erinnerungslücken empfunden.
Mathis hatte ihr gesagt, dass dies am Anfang normal sei, ebenso wie die Verwandlung selbst nichts Ungewöhnliches sei, doch sie sollte niemandem davon erzählen und sich keinem Menschen in ihrer anderen Form zeigen.
Auch nicht Maman ? Würde Maman sie noch lieben, wenn sie wüsste, dass sie ein Werwolf war? Maman würde sie immer lieben, egal was sie tat und was auch immer geschah. Das hatte sie ihr mehr als einmal gesagt. Maman! Tränen rannen über Jeannes Wangen. Sie wollte nach Hause.
Jeanne ließ sich auf die Knie sinken und berührte mit ihren Handflächen den Waldboden. Es war ihr, als würden Teile ihres Körpers flüssig werden. Sie spürte, wie ihre Finger wuchsen, ihr Gesicht sich verformte, wie jeder Knochen und jeder Muskel in ihrem Leib sich veränderte.
Sie betrachtete ihre Hände, die sich in Klauen und schließlich in Tatzen verwandelten. Jeanne wusste, dass es eine Zwischenform gab, doch sie konnte sie noch nicht halten. Das konnte man lernen, hatte Mathis gesagt. Die königliche Familie konnte sogar nur einzelne Körperteile verändern. Merkwürdig, sie hatte nie zuvor von Wolfskönigen gehört.
Philip II. war doch der König, und soweit sie wusste, war er kein Wolf. Oder lag es nur daran, dass er zwar über die Franche-Compté herrschte, doch eigentlich der König von Kastilien war? Zumindest sagte Tante Camille das oder wusste sie nicht alles? Jeanne durfte über die Wölfe nicht reden, also konnte sie Tante Camille nicht fragen. Vielleicht war Philip II. ja auch heimlich ein Werwolf.
Der Schmerz verebbte schneller als er gekommen war. Auf einmal war alles anders. Die Gerüche intensiver, die Geräusche lauter. Es war unbeschreiblich. Geschützt durch ihr Fell, war der Wind war auch nicht mehr so kühl. Alle Leute sollten Wölfe sein, denn es fühlte sich so gut an. Sie war viel schneller als sonst. Ausgestattet mit diesem Geruchssinn könnte sie Pilze und Kräuter viel schneller für Maman aufspüren.
Geschmeidig sprang sie durch den Wald. War das ein Leben! Ein Rehbock flüchtete vor ihr. Sie beachtete ihn kaum, denn sie war nicht auf der Jagd. Schneller und immer schneller lief sie. Jeanne bedauerte sehr, sich nicht an ihre ersten Verwandlungen erinnern zu können. Auch die Erinnerungen an spätere waren lückenhaft, doch dies hielt sie nicht davon ab, den Moment zu genießen.
Einzig das Kleid um ihren Bauch störte sie ein wenig. Fast war sie geneigt, es mit ihren Zähnen und Klauen einfach zu zerfetzen. Tante Camille würde sie ohnehin schelten, da sie
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