Wolfsmondnacht (German Edition)
so lange weg gewesen war. Doch sie konnte ja nichts dafür. Wie sollte sie es ihr nur erklären, wenn sie über die Wolfsleute nicht reden durfte? Tante Camille würde sie zur Strafe zu allen möglichen Hausarbeiten zwingen.
Vielleicht sollte sie einfach ein Wolf bleiben. Wölfe mussten sicherlich nicht Geschirr spülen, die Stube fegen oder Löcher in alter Wäsche flicken. Schließlich hatten Wölfe ein Fell und benötigten keine Kleider. Doch hatten sie im Winter auch kein warmes Bett, Compté-Käse und Mamans Kräutertees.
Rohes Fleisch schmeckte aber auch gut und es schlief sich gut im Wald, sofern man ein Fell hatte. Flöhe waren eine Plage, gewiss, und Ameisen. Schlimmer als all dies waren die Jäger. Sie würden nicht wissen, dass sie Jeanne war und sie erschießen, weil sie sie für ein Tier hielten. Vielleicht konnte sie auch beides sein: Mensch und Wolf. Ja, sie war bereits beides und sie wollte beides leben, trotz der Gefahr durch die Jäger.
Jeanne erkannte das Waldstück. Es war nicht mehr weit bis nach Dôle. Sie musste sich rechtzeitig wieder zurückzuverwandeln, bevor sie in Sichtweite der Stadt kam, sonst würde Tante Camille sie mit dem Besen hinausscheuchen, wie sie es einmal mit einer Katze getan hatte.
Jeanne blieb stehen. Die Zurückverwandlung dauerte etwas länger. Das war immer so, wenn sie sich innerhalb kurzer Zeit mehrmals verwandelte. Sie war auch stets erschöpft dann. Gewiss würde sie für den Rest der Nacht gut schlafen.
Jeanne erhob sich schwerfällig. Brandgeruch stieg in ihre Nase und umnebelte ihren Geruchssinn. Irgendwo in der Nähe musste es brennen. Ein starker Wind schlug ihr das Haar ins Gesicht. Sein Sausen klang in ihren Ohren.
Sie entfernte das Kleid von ihrer Hüfte und streifte es, zerknittert, wie es war, über. Reiter schlugen sich durch die Büsche. Die Jäger ritten geradewegs auf sie zu! Jeanne rannte wie nie zuvor in ihrem Leben.
Jean-François erstarrte. Der Brandgeruch weckte alte Erinnerungen in ihm. Bilder, die er lange Zeit verdrängt hatte, stiegen in sein Bewusstsein: Seine Mutter, an den Pfahl des Scheiterhaufens gebunden, dem Feuer ausgeliefert, das langsam nach ihrem Leib griff. Ihre Schreie, die gen Himmel stoben und für immer in seinem Geist widerhallen würden. In den Monaten nach ihrem Tod hatten ihn Albträume verfolgt, die ihn dies wieder und wieder erleben ließen. Doch es war jetzt nicht Suzette, die am Pfahl gebunden dort stand. Es war schlimmer. Viel schlimmer.
Jean-François starrte durch den Schutz der Büsche zum Richtplatz und hoffte, sich zu irren, doch es war wahr. Seine petite nièce , seine geliebte Jeanne, stand an den Scheiterhaufen gebunden. Es brach ihm das Herz, sie so dort stehen zu sehen. Vor allen entblößt, Schmerz und Angst in ihrem Blick, das Gesicht verschmiert von Schmutz und Tränenrinnsalen, war sie dem Hohn des Volkes ausgesetzt.
In diesem Moment erwachte Hass in Jean-François. Hass auf die Menschen und ihre Vorurteile. Mit einem Mal verstand er Émile besser. Er erinnerte sich seiner letzten Worte: Der wahre Feind ist ein anderer. Womöglich hatte er nicht Unrecht gehabt. Er wandte sich um, als er die Schritte seiner Gefährten neben sich vernahm.
»Oh, mein Gott!«, sagte Pamina und starrte zu dem Scheiterhaufen. »Ich werde sie ablenken und vom Scheiterhaufen weglocken. Noch ist der Menschenauflauf nicht allzu groß. Es könnte gehen. Währenddessen befreist du sie. Du kannst doch noch fliegen?«
» Oui . Lasst uns keine Zeit verlieren. Sobald Gefahr für dich droht, verschwinde im Wald. In einer anderen Richtung als Céleste und Donatien. Wir sammeln uns dann wieder später an vereinbarter Stelle.«
Pamina nickte. »Ihr lauft in Richtung Besançon. Dort werden wir euch später einholen.«
Pamina sprang aus den Büschen heraus und rannte auf die Menschen zu. »Ihr habt die Falsche!«, schrie sie. »Ich bin die Werwölfin, die ihr sucht.«
Vor den Augen der Meute verwandelten sich ihre Hände in Klauen. Faszinierend war der Vorgang für Jean-François, doch riss er sich von ihrem Anblick los, um sich in die Lüfte zu erheben. Er stürzte über die Köpfe der Menschen hinweg. Sie schrien in Panik und stoben auseinander. Einige stürzten sich auf Pamina, die daraufhin ein Blutbad entfesselte; andere rannten von Grauen erfüllt davon.
Jean-François landete dicht neben Jeanne. Sie hustete stark und ihre Augen tränten. Nur knapp war sie dem Tod entkommen. Zwar hatte sich das Feuer aufgrund der
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