Wolfsmondnacht (German Edition)
sie mehr lebendig, nichts berührte sie mehr. Nur Schädel und Knochen waren von ihnen geblieben – bleiche Überreste, die aus den Massengräbern quollen.
Jean-François pfiff ein altes Lied, während er zwischen den Gräbern entlangschritt, da wurde er niedergerissen auf den Friedhofsboden. Ein Mann lag plötzlich auf ihm. Sein Leib war schwer und kalt.
Eine Leiche , dachte Jean-François zuerst, doch Leben war in diesem Körper. Arme umfingen ihn hart und ein Mund presste sich auf seinen Hals. Kühle Lippen, die seine Haut liebkosten, doch nur kurze Zeit später spürte Jean-François einen durchdringenden Schmerz, als der Fremde ihn in den Hals biss.
Jean-François wollte sich aus dem Griff des Mannes befreien, doch dessen Kraft war überirdisch. Sein Schrei erstickte unter der Hand des Mannes an seiner Kehle. Die Luft reichte Jean-François kaum zum Luftholen und nach Atem verlangte sein Herz. Laut pumpte es das Blut durch seine Adern. Blut, das ihm Schlag für Schlag aus der Wunde an seinem Halse entströmte, wo die Lippen des Fremden ruhten. Endlich lockerte der Fremde den Griff an seiner Kehle.
Trotz der Gefahr spürte Jean-François Lust in sich aufwallen, die ihm die intime Berührung des Fremden bereitete.
Des Mannes Haar war von einem tiefen dunklen Rot war, wie er es nie zuvor erblickt hatte. In langen Wellen fiel es über dessen Schultern und berührte gar Jean-François’ Gesicht. Hinzu kamen die Bewegungen der Zunge und der Lippen des Mannes auf seiner Haut. Jean-François war Männern ebenso zugetan wie Weibern, doch dieser Fremde entfachte Empfindungen in ihm, die verwirrend waren in ihrer Intensität, Lust gepaart mit Schmerz in einem wilden Tanz.
Er griff nach dessen Haar, doch nicht, um ihn von sich wegzuziehen, um sein Leben zu retten, sondern um seine Finger durch diese Flut gleiten zu lassen. Der Fremde roch nach Nacht und Morgentau, unberührt vom Licht der Sonne. Jean-François richtete seinen Blick himmelwärts in die endlose Schwärze des Alls. Ihm war schwindelig, als der Mann von ihm abließ. Tiefgrüne Augen bannten seinen Blick, hielten ihn gefangen.
»Ich nehme dir dein Leben«, sprach der Fremde und Jean-François glaubte, einen fremdartigen Akzent in dessen Worten zu vernehmen. »Doch gebe ich dir ein anderes dafür, das ewig währen wird, wenn du denn stark genug dazu bist.« Er ließ seine Finger über Jean-François’ Gesicht gleiten. »Nie wieder wird dein Antlitz die Sonne sehen, erwartet es doch die ewige Nacht.« Er musste wohl die unausgesprochenen Fragen in Jean-François’ Augen erkannt haben, denn er sprach: »Du weißt, was ein Bluttrinker ist?«
Jean-François schüttelte den Kopf, doch hielt sogleich inne in der Bewegung wegen der Wunde an seinem Hals. Zu seiner Verwunderung floss kein Blut. Vorsichtig tastete er danach, doch seine Haut war unversehrt.
»Ich habe die Wunde geschlossen«, sprach der Fremde. »Mit meinem Blut.«
Jean-François betrachtete dessen Gesicht, die stark ausgeprägten Wangenknochen und den breiten Mund des Mannes. »Was ist ein Bluttrinker?«
Der Mann lächelte. »Ein Untoter und ewig Lebendiger zugleich, ein Wesen, so unbegreiflich wie die Ewigkeit selbst, in der es wandelt.« Er suchte Jean-François’Blick. »Dich soll die Zeit nicht töten. Du wirst wie ich vom Blute der Menschen leben. Meide Tierblut und lasse stets ab, bevor das Herz erlischt und der Tod wird dich niemals berühren.«
Er beugte sich über Jean-François und küsste ihn auf den Mund. »Doch es ist nicht deine Schönheit allein, sondern die Stärke deines Willens, die emporlodernden Flammen deines Geistes, die mich angezogen haben wie das Kerzenlicht einen Nachtfalter. Um dich will ich die Ewigkeit nicht betrügen. So mache ich dich zu ihrem Geschöpf, zu Blut von meinem Blut. Das Blut es Todes und des Lebens. Trink es, schöner Fremder, trink.«
Zum ersten Mal erblickte Jean-François die langen Fangzähne, die er zuvor nur gespürt hatte. Der Bluttrinker biss sich selbst in die Zunge. Dunkles Blut quoll hervor, füllte seinen Mund und rann an seinem Kinn herab. Er beugte sich über Jean-François und presste die Lippen auf die seinen zu einem blutigen Kuss.
Jean-François erwiderte den Kuss, gab seine Lippen und seine Zunge als Pfand seiner Hingabe und er spürte einen Schmerz in seiner Zunge, süß wie das Blut, das daraus entströmte. Er küsste den Fremden und umschlang ihn mit Armen und mit Beinen, erregt von dessen Nähe und dessen Leib, der seinem
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