Wolfsmondnacht (German Edition)
eine Geste, die er erwiderte.
»Ich hatte Mühe, Émile gestern Nacht aus dem Haus zu bringen. Er war wieder betrunken und hat einen Kunden beleidigt.« Estelle strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Der ist gegangen und kommt nie wieder.«
»Er selbst lebt von den Einnahmen des Bordells. Daher sollte er mit unseren Kunden besser umgehen.«
»Sag das ihm, nicht mir. Wie war es in Dôle?«
»Céleste geht es gut. Tante Camille ist wie immer. Ein Biest, die Alte, doch zu Céleste ist sie gut.«
Estelle betrachtete ihn einen Moment schweigend. »Da ist doch noch etwas anderes. Ich sehe es an deiner Nasenspitze.«
»Es ist nichts, Estelle.«
»Du wirkst anders als sonst.«
»Das bin ich auch. Ungewaschen und stinkend.«
Estelle lachte. »Du bist unmöglich.«
»War sonst noch etwas, während ich weg war?«
»Ein Monsieur Blanchard hat nach dir gefragt.«
»Ich werde ich aufsuchen. Doch zuvor werde ich mich waschen und die Kleidung wechseln.«
»Und deine Stoppeln entfernen.«
»Gewiss doch.«
Jean-François betrat seinen kleinen Raum, ein Hinterzimmer des Bordells. Gelegentlich würde er in Suzettes altes Haus in der Rue des Rats gehen müssen, um seine restlichen Kleider abzuholen.
Er legte seinen kurzen Mantel über einen Stuhl, zog Hemd, Wams und Hose aus. Er befüllte seine Waschschüssel mit dem Wasser der Seine aus dem Krug, der stets neben der Tür stand. Mit den Händen schaufelte er sich das Wasser ins Gesicht und fuhr mit den Fingern über die juckenden Bartstoppeln.
Er griff nach der Rasierseife, die auf dem Fensterbrett lag, und schäumte die Stoppeln damit ein, bevor er ihnen mit dem Rasiermesser den Garaus machte. Anschließend wusch er sich so gründlich es ging.. Aus seiner Truhe nahm er ein frisches Hemd, Unterwäsche, Wams, Strümpfe und Kniehose, die er hastig überstreifte.
Zuletzt ordnete er mithilfe seines Hornkamms sein langes Haar, das er offen über seine Schultern hängen ließ. Diese dunklen, widerspenstigen Locken, die er von seinem Vater hatte, dem Unbekannten, den er niemals kennen würde. Während er den Ring betrachtete, fragte er sich, was sein Vater für ein Mensch war und ob er womöglich noch lebte.
Jean-François verließ das Haus. Die Straßen waren dunkel bis auf die Kerzen hinter den Fenstern. Auch Suzette hatte einige in die Fenster des Bordells gestellt, wie es Vorschrift war. Monsieur Blanchards Haus war nur einige Straßen weit entfernt. Zwei Räume im Untergeschoss waren erleuchtet, als Jean-François es erreichte und an die Eichentür klopfte. Ein Diener tat ihm auf, ein kleiner Mann, der ihn sogleich einließ, als erwarte man ihn bereits.
» Bonsoir , Monsieur Merdrignac. Ich bin hocherfreut, Euch zu sehen. Wie war Eure Reise?« Monsieur Blanchard erhob sich und lächelte ihn von der anderen Seite des Tisches an, hinter dem er saß.
» Bonsoir , Monsieur Blanchard. Die Freude ist meinerseits. Meine Reise verlief ohne Zwischenfälle.«
»Setzt Euch bitte. Darf ich Euch einen Wein anbieten? Chablis oder Beaune?«
»Beaune, bitte.« Jean-François nahm auf einem der Stühle Platz, die um den Tisch aus dunklem Holz standen. Monsieur Blanchard nahm zwei Kelche und goss sowohl sich selbst als auch Jean-François ein. Er setzte sich an die andere Seite des kleinen Tisches, auf dem zwei Talglampen brannten.
»In Venedig soll es langstielige Trinkgläser geben«, sagte Monsieur Blanchard. »Sie sind aus hauchdünnem Glas in allen Farben, mit eingeschlossenen Spiralen, Kupferpartikeln und kleinen Malereien darauf. Könnt Ihr Euch das vorstellen?«
»Wie interessant. Ich sollte Venedig besuchen, sobald sich die Gelegenheit dazu ergibt.«
» Oui, das solltet Ihr, Monsieur Merdrignac. Ihr seid noch jung und habt das Leben vor Euch. Viele Möglichkeiten tun sich auf. Wäre ich noch einmal so jung wie Ihr, würde ich selbst dorthin reisen.«
»Ihr habt Eure Jahre doch sicher nicht vergeudet, Monsieur?«
»Non, mon ami . Ich habe sie genutzt.«
»So alt erscheint Ihr mir nicht.«
Monsieur Blanchard strich über seinen Spitzbart. »Ich gehe immerhin auf die Vierzig zu.« Er nippte an seinem Wein. »Ah, kommen wir zu den Angelegenheiten, über die ich mit Euch sprechen möchte. Eure Investitionen waren gut angelegt. Mit Pelzen und Gewürzen habe ich dieses Jahr außerordentliche Gewinne erzielt.«
»Das freut mich zu hören.«
»Ich sagte es Euch ja, dass Ihr den Instinkt eines Händlers besitzt.«
»Dank Euch.«
Monsieur Blanchard vollführte eine
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