Wolfsmondnacht (German Edition)
Haustür. Wenig später öffnete ihm Céleste, die bereits ihr Nachtgewand trug, über das sie einen Mantel geworfen hatte. Lächelnd grüßte er sie.
Überrascht sah sie ihn an. » Bonsoir, mon frere . Es freut mich, dich zu sehen. Ich wusste nicht, dass du kommst, sonst hätte ich dir eine Kammer vorbereitet.«
»Mach dir keine Umstände.«
Céleste hielt ihm die Tür auf. »Komm mit nach oben, doch sei leise. Jeanne schläft schon.«
Er trat ins Haus und hinter Céleste die Treppe hinauf, leiser als es jeder Sterbliche vermochte.
Sie betrachtete ihn prüfend. »Was führt dich zu mir?«
Er zögerte. Wie sollte er ihr die Wahrheit sagen, ohne ihr Angst einzujagen?
Er räusperte sich. »Es gab einen Angriff auf eine Person, die mir etwas bedeutete.«
»Einen Angriff?«
» Oui . Geschah hier in der letzten Zeit etwas Ungewöhnliches?«
»Gar nichts, außer dass Émile zu Besuch war.«
»Émile? Den habe ich lange nicht mehr gesehen. Was wollte er von dir?«
»Das weiß ich nicht so genau.Er sprach von Suzette und wie ähnlich ich ihr sei. Offenbar kam er zu der späten Einsicht, dass ich seine naheste Verwandte bin.« Sie hob die Achseln.
»Du versprichst mir, vorsichtig zu sein?«
»Ich bin nicht dumm und wehrlos schon gar nicht. Zudem trage ich die Verantwortung für Jeanne.«
»Ich konnte nicht in Siena bleiben. Auch hier bin ich nur kurz, um meine Feinde nicht auf deine Fährte zu locken. Wohin ich gehe, weiß ich noch nicht, doch ich werde dir eine Nachricht von dort zukommen lassen.« Es war in Paris nicht allzu bekannt, dass Jean-François eine Schwester hatte. Zudem besaß sie einen anderen Nachnamen als er, was sich jetzt als Glücksfall erwies.
»Du willst mich schon wieder verlassen?« Der Wehmut in ihrem Blick traf ihn mitten ins Herz.
»Ich bleibe drei Wochen.«
»Jeanne wird sich freuen. Dass du dieses Zigeunerleben nicht leid bist.«
»Was sollte mich an einem Ort halten, außer du und Jeanne?«
»Was hast du vor?«
»Ich versuche noch einmal, ein Geschäft zu eröffnen.«
Sie setzten sich in der Küche gegenüber und redeten stundenlang über die Vergangenheit, über Suzette und über eine mögliche Zukunft. Sie tauschten Neuigkeiten aus und sprachen über ihre Träume.
»Wenn Jeanne etwas älter ist, werde ich dich besuchen.«
»Sobald alles so läuft, wie es soll.« Jean-François sah zum Fenster hinaus. Noch hing der Schleier der Dunkelheit über dem Land, doch in weniger als einer Stunde würde die Nacht entschwinden. »Ich muss jetzt gehen.«
Sie nickte. »Wie immer. Nie sehe ich dich bei Tag. Deshalb bist du auch so blass. Ich hoffe, du übernimmst dich nicht.«
»Mach dir um mich keine Sorgen.«
»Mache ich aber. Deine Chefin wurde ermordet. Wer weiß, ob du nicht auch in Gefahr bist.«
»Ich komme damit zurecht.«
Céleste senkte den Blick zu ihren Händen. »Du hast den Mörder doch hoffentlich nicht auf meine Fährte gelockt, indem du hierher kamst? Nicht, dass ich nicht überaus froh bin, dich zu sehen.«
Jean-François sah sie nachdenklich an. Er konnte es ihr nicht verdenken, dass sie diese Frage stellte. Er stellte sie sich ja selbst. Doch auf die Art, wie er reiste, konnte ihm niemand folgen. Es sei denn, es handelte sich um einen anderen Bluttrinker, der ihn verfolgte. Er kannte jedoch keinen anderen seiner Art, außer Amaël und der war verschollen. Er bezweifelte, dass dieser ihn heimlich verfolgte. Andererseits war Amaëls Verhalten auch merkwürdig gewesen.
» Non , ich denke, das kann ich weitgehend ausschließen.« Jean-François küsste sie auf die Stirn. » Bonne nuit , Céleste.«
» Bonne nuit .« Sie lächelte wehmütig. Er spürte ihren Blick auf sich, als er den Raum verließ.
Er suchte sein Zimmer auf, das sich am Ende des Ganges befand. Es war spärlich eingerichtet. Doch was brauchte er schon?
Jean-François nahm die Weltkarte, die einst Tante Camilles früh verstorbenem Mann gehört hatte, aus der Truhe. Auf dem Tisch neben dem Bett breitete er sie aus. Jean-François schloss die Augen und suchte mit dem Zeigefinger Europa. Er hatte Glück: Weder Frankreich noch das Meer hatte er ausgewählt. Unter seinem Finger befand sich die Republik Venedig.
In diese Richtung sollte seine Reise ihn führen. Seine Zukunft war geplant. Der Zufall beherrschte die Welt, sofern es den Zufall denn gab.
In den drei Wochen, die Jean-François in Dôle verbrachte, gab es keine ungewöhnlichen Zwischenfälle. Auch Émile ließ sich nicht mehr blicken.
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