Wolfsmondnacht (German Edition)
Er nahm an, dass dieser sich entweder bei seiner Großtante aufhielt oder beleidigt nach Paris abgereist war.
So verließ Jean-François nach einem wehmütigen Abschied seine Schwester und Nichte, um nach Venedig zu reisen. Doch es war nicht die auf Pfählen im Meer erbaute Stadt, die aus der Höhe seine Aufmerksamkeit auf sich zog, sondern ein Bauwerk mit byzantinischen Kuppeln und Glockentürmen von orientalisch anmutendem Flair. Im Schatten der Basilica di Sant’Antonio in Padua ließ er sich nieder.
Doch der Glanz und die Schönheit der Stadt erwiesen sich als trügerisch, als Jean-François zum Prato della Valle gelangte. Der Platz vermittelte Jean-François ein Bildnis des Niedergangs, was seinen derzeitigen Gefühlen entsprach.
Die Überreste von Ständen des vergangenen Jahrmarkts befanden sich dort. Müll und Exkremente lagen überall. Der Regen sammelte sich in den Stellen, wo der Boden abgesackt war. Ein verlorener Damenhut lag geknickt im Schlamm. Die Feder daran, die vor Regen troff, bewegte sich träge im Wind.
Hier wollte Jean-François bleiben, an diesem Ort, der sein Innerstes widerspiegelte. Er folgte dem Verlauf des Bacchiglione, dessen Plätschern zu ihm hoch drang. In der Nähe der Brücke San Lorenzo erweckte ein neben dem Fluss erbautes Haus seine Aufmerksamkeit. Es war zwar alt, doch entsprach es seinen Vorstellungen.
» Buona sera, Signor . Interessiert Ihr Euch für das Haus?«
Jean-François wandte sich überrascht zu dem Mann um. Er war klein und dunkelhaarig, seine Kleidung schlicht. Einzig auffällig war sein gezwirbelter Bart.
»Möglicherweise. Besitzt es einen Keller?«
» Si, Signor, direkt unter dem Haus. Sehr geräumig. Hat man früher Wein darin gelagert. Es steht seit Kurzem zur Vermietung.«
»Ist es Euer Haus?«
» No , ich bin der Makler Signor Bertolo. Dieses Haus ist zweifellos eines der schönsten, die ich betreue.«
»Kann ich es mir ansehen?«
»Wenn Ihr wollt, sofort, Signor …«
»Lenoir.« Jean-François hielt es für unklug, seinen wahren Namen preiszugeben, da er im Großherzogtum Siena unter Mordverdacht stand. Um sich als Italiener auszugeben, dafür reichten seine Sprachkenntnisse leider nicht aus.
»Ah, Ihr seid Franzose. Habe ich es mir doch gedacht. Der Akzent ist unverkennbar. Lasst uns gehen, Signor Lenoir.«
Jean-François folgte Signor Bertolo in das Haus. Im Unterstockwerk befanden sich mehrere Räume, die früher als Lagerräume gedient hatten. Jean-François’ Blick fiel auf die Spinnweben, die überall von den Decken hingen. Seine Schuhe hinterließen Spuren im Staub. Zurück im geräumigen Flur, schritten sie die Treppe hinauf.
»Wie hoch ist der Mietpreis?«, fragte Jean-François.
Signor Bertolo nannte ihm die Summe.
»Das erscheint mir etwas hoch.« Selbst für eine Stadt wie Siena war der Mietpreis überhöht.
»Das Haus befindet sich in bester Lage und es ist in gutem Zustand. Es hat Keller und Balkon. Etwas Besseres werdet Ihr kaum finden, da die Einheimischen bei der Vermietung ihre Bekannten bevorzugen.«
Das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, bemächtigte sich Jean-François’.
Signor Bertolo führte ihn an der Küche vorbei in ein geräumiges Zimmer. »Vom Balkon hat man eine wunderbare Aussicht über den Fluss und einen Teil der Altstadt.« Er drehte sich zu Jean-François um. »Und hier. Seht die Täfelungen. Aus Nussbaumholz. Vor zwei Jahren neu angebracht und frisch geölt.«
Jean-François lächelte gequält. »Es sieht wirklich sehr gut aus, doch sagt mir: Warum steht das Haus schon so lange leer?«
»Leerstehen?« Signore Bertolo sah ihn entgeistert an. »Noch nicht lange. Höchstens ein viertel Jahr.«
»Ein viertel Jahr?«
» Si , Signor. Warum wollt Ihr das wissen?«
»Wegen der vielen Spinnenweben hier überall.« Jean-François deutete auf ein besonders eindrucksvolles Exemplar, das aufgrund des vielen Staubs daran eindeutig älter war.
»Ah, Spinnen, eine Plage!« Signore Bertolo verzog angewidert das Gesicht. »Der letzte Mieter war nicht besonders sauber. Er roch wie ein umgekippter See im Sommer. Wohnte zum Glück nicht so lange hier. Sicher wäre das Haus verkommen, wenn er länger hier gewohnt hätte.«
»Er wohnte also nur kurz hier?«
»So ist es. Leben heutzutage wie die Zigeuner, die jungen Leute. Habt Ihr Interesse am Haus?«
Jean-François hob eine Augenbraue. »Stünde ich noch hier und vertrödelte meine kostbare Zeit, wenn ich kein Interesse daran hätte?«
»Ich wollte Euch
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