Wolfsmondnacht (German Edition)
seiner Linken ein, Jeanne zu seiner Rechten. So liefen sie durch die verwinkelten Gassen der Stadt. Die schmale Mondsichel entschwand hinter zerfaserten Wolkenbänken. In wenigen Tagen war Neumond. Dunkelheit umhüllte Jean-François und seine Begleiterinnen. Jeannes Schritte erklangen im Gleichtakt mit den seinen. Ihre Hand war warm in der seinen.
Plötzlich sprang aus dem Schatten einer Mauer ein Mann mit einem Dolch.
»Hinter mich! Schnell!«, sagte Jean-François. Céleste und Jeanne taten wie geheißen.
»Geld oder Leben!«, rief der Angreifer und zielte direkt auf Jean-François, streifte dessen Arm jedoch nur.
»Dein Leben!«, sagte Jean-François und entriss ihm den Dolch. Der Mann verletzte sich dabei selbst an der Hand, da er die Waffe nicht loslassen wollte. Blut rann über sein Handgelenk. Jean-François hatte heute nur das Blut eines Greises getrunken. Nur noch wenig Lebenskraft war darin gewesen. Seitdem waren Stunden vergangen, sodass der Anblick frischen Blutes ihn überwältigte. Er umfasste die Hand des Mannes. Zeitgleich fand sein Blick den des Fremden, bohrte sich hinein, so wie sich seine Zähne in das Handgelenk gruben. Schnell wie ein Donnerhall sog er Blut und Leben aus ihm heraus. Den Leib ließ er hinter einen Mauervorsprung gleiten, damit man ihn nicht sofort von der Straße aus sah. Er spürte Célestes und Jeannes Blicke auf sich.
»Du hast diesen Mann getötet, nicht wahr? Du hast … du hast sein Blut … Oh, nein! Was hat das alles zu bedeuten?« Célestes Stimme bebte. Er spürte ihre Unsicherheit und ihre Angst. Es war falsch. Seine Schwester sollte keine Angst vor ihm haben.
»Céleste«, sagte er.
»Du hast ihn getötet, sein Blut getrunken. Was , bei allen Teufeln, bist du?« Céleste wich vor ihm zurück und zog Jeanne mit sich.
Er suchte Jeannes Blick. Erstaunen und Neugierde lagen darin, doch nur wenig Furcht. »Ich dachte, die Dearg-Du e wären nur Weiber. Ich muss Rían sagen, dass er sich irrt.«
»Das wirst du nicht, ma nièce .« Jean-François starrte von einer zur anderen und tat, was er niemals hatte tun wollen: Er manipulierte die beiden Menschen, die ihm in seinem Leben am meisten bedeuteten. Gleichgültig der Gefahr, dass sie dem Wahnsinn anheimfielen konnten. Er hätte einfach gehen können, um sie nie wieder zu sehen, doch er war zu egoistisch dafür. Nebel zogen über Jeannes und Célestes Pupillen. Schatten formten sich darin, die Klauen des Urbluttrinkers, der nach ihren Seelen und ihren Erinnerungen griff. Jener Kreatur, die Jean-François bisher nur in Traumfetzen zwischen Schlaf und Tod erschienen war.
Panik flackerte in ihren Augen auf, doch nicht lange und sie wich der Ausdruckslosigkeit. Der Dämon hatte sie wieder freigegeben. Die Seelen erwachten wieder. Doch waren sie noch sie selbst oder besessen von Wahnsinn?
Verwirrt sahen ihn Céleste und Jeanne ihn an.
»Was ist geschehen?«, fragte Céleste.
Jean-François setzte sein scheinheiligstes Lächeln auf. »Nichts, gar nichts. Du hast nur etwas zu viel Bier getrunken.«
»Daher ist mir so schwindelig.« Céleste taumelte.
Jean-François umfasste sie an der Hüfte. Besorgt neigte er sich über sie und strich über ihre Wange. In ihre Augen war durch die Gedankenmanipulation ein fiebriger Glanz getreten.
»Ist dir auch schwindelig?«, fragte er Jeanne.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, gar nicht. Ich betrinke mich ja auch nicht so hemmungslos wie Maman.« Sie grinste schelmisch.
»Jeanne!« Céleste sah sie indigniert an. »Ihr beide seid schlimm!«
»Lasst uns jetzt nach Hause gehen. Ich bin müde« sagte Jeanne.
»So schnell lasse ich dich nicht mehr zu Rían. Er ist fast so schlimm wie Jean-François.«
Pamina stand im Dickicht unweit des nordwestlichen Stadtrandes und blickte Jean-François und seinen beiden Begleiterinnen traurig nach. Das waren also Jean-François’ Weib und Tochter. Sie hätte es sich denken können, dass er in all den Jahren nicht allein geblieben war. Wie liebevoll er mit den beiden umging. Er umfasste das Weib an der Hüfte. Das Mädchen schmiegte sich in seinen anderen Arm.
Dort könnte jetzt sie sein, an Jean-François’ Seite, in seinen Armen. Nacht für Nacht. Die Erinnerung an jene Nächte viele Jahre zuvor brannte in der nie verheilten Wunde in ihrem Herzen. Paminas Augen schmerzten von ungeweinten Tränen.
Wie nie zuvor zweifelte sie an ihrer damaligen Entscheidung. Pflicht vor Gefühl. Das Wohl der Gemeinschaft vor ihrem eigenen. Hätte sie
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