Wolfsmondnacht (German Edition)
Stunde auf den Straßen und Gassen, im Gegensatz zu denen Dôles, der er sich jetzt näherte.
Bereits vom Wald aus vernahm er die Geräusche von Wagenrädern, die Rufe der Menschen, Hundegebell und Kirchenglocken. Dennoch war es kein Vergleich zu dem Gedränge, das bei Tage hier herrschte. Jean-François kannte dieses nur noch aus seiner Erinnerung. Er würde es niemals mehr sehen. Er durchquerte die Stadt bis zum nördlichen Stadtrand, wo sich Tante Camilles Haus befand. Als er in den Hof ritt, bemerkte er Licht in der Stube und in Célestes Kammer.
Er stieg vom Pferd, nahm den Sattel ab und rieb das Tier mit Stroh ab, während es sich am Wassertrog labte. Er lief am Brunnen vorbei zum Haus und klopfte. Zu seinem Missfallen öffnete ihm Tante Camille. Hinter ihr stand Jeanne und blickte neugierig heraus. Ihr dunkles Haar hing in halb aufgelösten Zöpfen bis über ihre Schultern. Sie trug ein dunkelbraunes Kleid, das ihr etwas zu klein war. Wieder sah sie anders aus als in seiner Erinnerung. Die Zeit lief an ihm vorbei. Sie vergaß ihn und tötete alle rings um ihn herum, ein jeder Tag brachte jene, die er liebte, dem Grabe ein wenig näher.
Jeanne drängte sich an Céleste vorbei..
»Onkel Jean-François!« Auch ihre Stimme war nicht mehr so kindhaft.
»Nur Jean-François! Nenne mich bitte nicht Onkel, sonst fällt mir auch ein übler Name für dich ein.«
Unter Tante Camilles missbilligendem Blick warf Jeanne sich in seine Arme. »Ich freue mich so, dich zu sehen.« Der Geruch ihres Haares drang in seine Nase. Er erinnerte ihn an Mädesüß.
Er küsste sie auf beide Wangen. » Bonsoir , Jeanne. Ich freue mich auch.«
»Du hast mir das letzte Mal versprochen, mit mir zu Onkel Rían zu gehen. Bitte, bitte.«
»Zu Rían? So spät geht es nicht mehr aus dem Haus!«
»Rían ist immerhin ihr Patenonkel«, sagte Jean-François.
»Weil du es nicht sein konntest. Du hattest ja keine Zeit. Die Geschäfte gingen vor.« Besonders das Wort Geschäfte betonte Tante Camille abfällig.
»Ich hätte es getan, wenn ich gekonnt hätte«, sagte Jean-François. Während der Taufe wegen des Sonnenlichts in Flammen aufzugehen, machte sich nicht besonders gut, und führte zu Gerede in der Bevölkerung.
»Du hättest es gekonnt, würdest du nicht wie deine Mutter leben: Nachts huren und tagsüber schlafen.«
»Nun reicht es aber!«, sagte Céleste, die soeben die Treppe herunter kam. Sie trug eines ihrer selbst genähten, mit Stickereien verzierten Kleider. Ihr Haar reichte in rotblonder Flut bis zu ihren Hüften.
»Habe ich dir schon gesagt, dass du ein schlechter Einfluss für das Kind bist?«, fragte Tante Camille.
»Mehr als einmal. Man tut, was man kann. Ich finde, Jeanne sollte etwas von der Welt sehen. Der Rote Ochse mag zwar eine Kneipe sein, doch gegen die in Paris ist sie harmlos.«
Céleste lachte. »Letzteres glaube ich dir aufs Wort. Also gut, sie darf zu Rían, aber ich gehe mit.«
Tante Camille sah sie indigniert an. »Hältst du das für eine gute Idee?«
»Ich weiß, was ich tue, Camille.«
»Das haben wir ja gesehen. Darum warst du ja damals schwanger.«
»Ich will das nicht mehr hören! Ich habe genug von all den Vorwürfen!« Céleste ließ Camille stehen und trat zur Tür hinaus, gefolgt von Jeanne.
Jean-François sah seine Schwester erstaunt an. Vermutlich stimmte sie dem Besuch bei Rían nur zu, um Tante Camille zu ärgern.
Jean-François lachte das erste Mal, seit er aus Paris herkam, unbeschwert. »Gib es zu. Du bist lieber bei Rían als bei ihr.«
Céleste stieß ihm in die Rippen. »Das ist ja wohl kein Wunder.«
Sie nahmen Jeanne in ihre Mitte, als sie zum roten Ochsen liefen. Céleste klopfte an die Tür des Gasthauses.
»Ich öffne erst in einer halben Stunde!« erklang es von der anderen Seite der Tür. Kurz darauf erschien Ríans Kopf am Fenster. »Ach, ihr seid es.« Er öffnete ihnen die Tür. Jean-François ließ Céleste und Jeanne zur Theke vorangehen.
Rían lächelte sie an. Aufgrund seiner geringen Körpergröße stand er auf einem Hocker hinter der Theke. Er strich sich durch das schulterlange haselnussbraune Haar.
»Ah, Jean-François, welche Freude, dich wieder in der Stadt zu sehen.«
»Die Freude ist meinerseits.«
»Darf ich euch etwas anbieten?«
»Milch für Jeanne und für mich ein Nachbier«, sagte Céleste.
»Und dir?« Rían sah Jean-François fragend an.
»Danke, nichts. Mir ist flau im Magen.«
»Etwas Unrechtes gegessen?« Rían befüllte Becher für
Weitere Kostenlose Bücher