Wolfspfade 6
aufgewacht?“
„Nur wenn die Kopfschmerzen besonders schlimm waren.“
Was die Leichen erklären würde, die mit beunruhigender Regelmäßigkeit in der Mondsichelstadt auftauchten. Bislang hatte ich mich geweigert zu glauben, dass John für die Morde verantwortlich sein könnte; er schien zu so was nicht fähig zu sein. Aber je besser ich ihn kennenlernte, desto fähiger wirkte er auf mich. Und jetzt, da er zugegeben hatte, gelegentlich sein Zeit- und Raumgefühl zu verlieren …
„Wir brauchen definitiv einen Anwalt“, teilte ich ihm mit.
„Nein, braucht ihr nicht.“ Sullivan war zurück. Er sah nicht glücklich aus.
„Und wieso nicht?“
„Der Arzt im Leichenschauhaus hat die Tote untersucht.“ Er brach ab und starrte Rodolfo missmutig an. Der grinste, als wüsste er, was Sullivan als Nächstes sagen würde, nur dass der Detective es nicht sagte. Stattdessen musterte er John weiter, während der Zorn in Stoßwellen aus seinen Poren zu schießen schien.
Schließlich hielt ich es nicht länger aus. „Was hat der Arzt gesagt?“
Sullivans Blick glitt zu mir. „Dieser Grünschnabel am Tatort hat wegen des vielen Bluts die Fassung verloren. Halswunden bluten nämlich wie der Teufel.“
„Das kann ich mir vorstellen.“ Das konnte ich wirklich; nur hätte ich es vorgezogen, es nicht zu können.
„Die tote Frau, Bäche von Blut, Rodolfo, der über ihr kauert, seine eigenen Hände voller …“
„Vielleicht habe ich versucht, sie wiederzubeleben“, fiel John ihm ins Wort.
„Ich bezweifle, ob ein Wiederbelebungsversuch bei einer tödlichen Halsverletzung Erfolg gehabt hätte“, spottete Sullivan.
„Ich wusste ja nicht, dass sie eine tödliche Halsverletzung hatte.“
„Aber Sie wissen, wie man jemanden wiederbelebt?“
„Nein.“
Triumph machte sich auf dem Gesicht des Detectives breit, aber ich holte ihn rasch wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, indem ich fragte: „Was hat der Arzt gesagt, das dich so plötzlich zu der Überzeugung brachte, dass John keinen Anwalt braucht?“
Der Ausdruck auf Sullivans Gesicht verflüchtigte sich. „Die Kehle war zerfetzt, nicht durchtrennt.“ Sein Blick suchte meinen. „Von einem Tier, nicht von einem Messer.“
„Eine weitere unerklärliche Tierattacke“, schloss ich leise.
„Exakt.“
„Was für ein Tier war es?“
„Es ist noch zu früh, um das mit Bestimmtheit zu sagen.“
Langsam machte ich mir wirklich Gedanken wegen dieses Werwolfs; nur dass letzte Nacht Halb- und nicht Vollmond gewesen war.
„Sie können jetzt gehen“, teilte Sullivan Rodolfo mit. „Aber verlassen Sie nicht die Stadt.“
„Steht er noch immer unter Verdacht?“, fragte ich.
„Nicht in diesem Mordfall.“
Wären da nur nicht so viele andere gewesen.
Ein uniformierter Beamter führte John weg, um seine Entlassung in die Wege zu leiten. Wir folgten den beiden, aber kaum dass wir den Hauptbereich erreichten, legte Sullivan eine Hand auf meinen Arm. „Ich habe das Armband im Labor abgegeben.“ Seine Miene spiegelte Besorgnis wider. „Ich wünschte noch immer, du würdest nicht im Rising Moon wohnen.“
Ich schaute zu John, der mit dem Beamten im vorderen Teil des Reviers stand. „Mir passiert schon nichts. King lässt die Schlösser auswechseln.“
„Da läuft was zwischen dir und Rodolfo“, platzte Sullivan heraus.
„Nein, das stimmt nicht.“
Das Einzige, was zwischen uns lief, war Sex, und das zählte hier nicht.
„Ich bezweifle, dass du ihn auf frischer Tat ertappen wirst“, fuhr Sullivan fort. „Der Typ ist aalglatt.“
„Vielleicht hat er überhaupt nichts getan.“
„Er hat etwas getan. Das weiß ich.“
Ich schüttelte den Kopf. „Du bist besessen von deinen Vorurteilen.“
„Ich glaube nicht, dass ich der Besessene von uns beiden bin.“
Diese Richtung wollte ich auf keinen Fall einschlagen.
Ich wusste, dass Sullivan mich mochte, dass er mehr von mir wollte als nur Freundschaft. Ich wusste, dass ich ihm sagen sollte, dass ich nicht das Gleiche für ihn empfand, aber ich hatte keine Ahnung, wie. Und ich wollte ihn nicht verärgern, solange ich nicht herausgefunden hatte, was hier vor sich ging. Ich war auf seine Hilfe und sein Wohlwollen angewiesen.
„Es besteht eine Verbindung zwischen Rodolfo und den Morden“, beharrte er, „und ich werde sie aufdecken. Ich wünschte nur, ich hätte dich nicht in Gefahr gebracht.“
„Ich bin nicht in Gefahr“, widersprach ich ohne echte Überzeugung. „Katie wurde zuletzt
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