Wolfspfade 6
zu meinem Zimmer hinaufsteigen und zusammen sein?
An ihn zu denken, lenkte mich von Katie und ihrem Armband ab; es bewahrte mich davor, zu oft darüber nachzugrübeln, was es bedeutete. Jedoch verhinderte es nicht, dass ich unablässig die Tür im Auge behielt und jedes Mal, wenn sie geöffnet wurde, enttäuscht seufzte, weil es wieder nicht Sullivan war.
Lange nach Mitternacht stand John endlich vom Klavier auf und wollte sich trotz vielstimmiger Ermunterungen nicht dazu bewegen lassen weiterzuspielen; stattdessen verschwand er in seinem Büro und schloss die Tür. Die Menge begann sich augenblicklich zu lichten, was mir die Chance gab, mit King zu sprechen.
„Weißt du, was das ist?“ Ich legte den leicht zerknautschten Beutel mit seinem ominösen Inhalt auf die Theke.
King, der gerade Wild Turkey in einen Schwenker füllte, schaute so abrupt auf, dass der Whiskey unkontrolliert auf den eben noch makellosen Tresen schwappte.
Hastig brachte ich das kleine Säckchen aus der Gefahrenzone. „Hey!“
King sah sich verstohlen um. „Schaff mir dieses Ding aus den Augen“, fuhr er mich an.
Das war nicht ganz die Reaktion, die ich erwartet hatte, aber immerhin schien er etwas zu wissen. Nachdem ich den Beutel in meiner Tasche verstaut hatte, wartete ich so geduldig wie möglich, bis er mit der Bestellung fertig war.
Er winkte mich an das Ende des Tresens. „Woher hast du das?“
„Es lag unter meinem Kissen – schon das zweite in dieser Woche.“
Sein anhaltendes Stirnrunzeln vertiefte sich. „Das ergibt keinen Sinn.“
„Ich dachte, es könnte irgendeine Tradition hier in New Orleans sein. So was wie ein Duftsäckchen.“
Er schnaubte verächtlich. „Das ist ein Gris-Gris .“
„Voodoo?“ King nickte. „Wozu dient es?“
„Möglicherweise als Schutzamulett, es könnte aber auch ein Fluch oder sogar ein Liebeszauber dahinterstecken.“
Ein Liebeszauber ? Verdammt!
Ich kramte den Beutel aus meiner Tasche und hielt ihn King entgegen. „Wozu ist dieses hier gedacht?“
Er starrte das Gris-Gris einen Moment lang an. „Ich sagte dir bereits, dass ich mich mit Voodoo nicht auskenne.“
„Wer würde so was unter mein Kissen stecken?“
„Keinen Schimmer.“
„Ich denke, wir sollten die Türschlösser auswechseln.“
Kings Augen wurden schmal. „Da bin ich ganz deiner Meinung.“
Mit dem Plan, meine Schicht zu Ende zu bringen und anschließend Sullivan ausfindig zu machen, drehte ich mich um, als ich John in der Tür zu seinem Büro entdeckte. Seine dunkel schimmernde Brille bildete einen krassen Kontrast zu seinem allzu blassen Gesicht.
Ich hielt auf ihn zu, um ihm ein paar Fragen zu stellen, aber er wich zurück und hob eine zittrige Hand an seinen Kopf. „Tu das nicht“, flüsterte er.
Ich hielt inne. „Leidest du wieder unter Migräne?“
Er nickte, verzog dabei vor Schmerz das Gesicht, bevor er mit wenigen Schritten den Rückzug antrat und mir die Tür vor der Nase zuschlug.
Ich war verleitet, ihm nachzugehen, aber was konnte ich schon ausrichten? Die Erfahrung mit meiner Mutter hatte mich gelehrt, dass man einen Migränepatienten besser allein und im Dunkeln ließ.
„Anne“, hörte ich King rufen. „Ich könnte hier ein wenig Hilfe brauchen.“
Im Rising Moon wurde es allmählich wieder voll. Einheimische strömten herein und begannen Musik zu machen, bis wir am Ende noch mehr zu tun hatten als zuvor. Der Mardi Gras stand nun direkt bevor.
Also eilte ich zwei weitere Stunden von Tisch zu Tisch und dachte dabei kaum noch an irgendwelche Liebeszauber oder an John Rodolfo. Gegen drei Uhr morgens kam Sullivan hereingeschlendert.
„Du hast meine Nachricht bekommen“, begrüßte ich ihn.
„Welche Nachricht?“
„Wenn du sie nicht gekriegt hast, warum bist du dann hier?“
„Ich habe versucht anzurufen. Es ist niemand rangegangen.“
Ich zeigte auf die Band, dann auf die lärmenden Gäste. „Kein Wunder. Was wolltest du denn?“
„Dein Boss wurde verhaftet.“
„Nein …“ Ich spähte zum hinteren Teil des Clubs. „Er ist in seinem Büro. Hat einen Migräneanfall.“
„Man fand ihn über einer ermordeten Frau kauernd; er behauptet, nicht zu wissen, wie er dort hingekommen ist.“
„Das ist unmöglich.“
„Warum überzeugen wir uns nicht einfach?“
Achselzuckend ging ich ihm voraus. Natürlich konnte Rodolfo das Büro verlassen haben und zur Hintertür hinausgeschlüpft sein. Allerdings bezweifelte ich, dass er mit einer Migräne weit kommen würde.
Weitere Kostenlose Bücher