Wolfspfade 6
vor dem Rising Moon gesehen. Deshalb muss ich bleiben.“
„Ich bin mir inzwischen nicht mehr so sicher, dass sie wirklich dort war.“
„Was?“
„Wie du weißt, gibt es Möglichkeiten, ein Foto zu manipulieren. Das ist keine große Kunst.“
„Warum sollte jemand …“
„Keine Ahnung. Würdest du mir das Foto überlassen? Damit ich es von einem Experten untersuchen lassen kann?“
Ich zögerte. Auch wenn ich bislang kein Glück gehabt hatte, wollte ich das Foto weiterhin den Gästen in der Bar zeigen.
„Ich mache eine Kopie“, versprach er.
Schließlich nickte ich und gab ihm das Original. Er kam ein paar Minuten später mit einem guten Abzug zurück.
„Danke.“ Ich schob das Foto in meine Hosentasche.
„Du musst in Betracht ziehen, dass Katie möglicherweise gar nicht dort war.“
„Aber das Armband …“
„Könnte von der Person hinterlassen worden sein, die Katie entführt hat.“
Mir jagte ein Schauder über den Rücken. „Wozu?“
„Ich weiß es nicht, Anne.“ Sullivan streichelte meine Wange. Seine Berührung war trotz der Größe und Rauheit seiner Hand sanft, weich und liebevoll. „Schau, du selbst kannst auch nicht loslassen.“
„Ich schätze, wir beide sind vom selben Schlag.“
„Ja.“ An dem Ausdruck in seinen Augen erkannte ich, dass er mich küssen wollte. Fast hätte ich ihm gesagt, dass wir nie mehr als Freunde sein konnten, als hinter uns ein Räuspern ertönte und wir hastig auf Abstand gingen.
John stand nur wenige Schritte hinter uns. Ich wusste, dass er nicht gesehen hatte, wie Sullivan mich berührte; er konnte nicht ahnen, wie nahe wir einer Umarmung gewesen waren. Trotzdem konnte ich das Gefühl nicht abschütteln, dass seine Augen hinter der verspiegelten Sonnenbrille voller Vorwurf waren.
Ich versteifte mich. Er hatte ebenso wenig Anspruch auf mich wie ich auf ihn. Das hatte er von Anfang an klargestellt.
„Bist du bereit?“, fragte ich ihn und stellte erleichtert fest, dass mein Tonfall normal klang.
„Bist du es denn?“ Rodolfos Stimme triefte auf einmal vor Sarkasmus.
Er hatte Sullivan und mich nicht zusammen gesehen, aber er musste unser Gespräch gehört haben. Diese Bemerkung, dass wir vom selben Schlag wären.
Und wenn schon. Wir waren es.
„Ich melde mich“, murmelte Sullivan, als ich Johns Arm nahm und ihn zur Tür führte.
Ein Streifenwagen erwartete uns. Ich war verleitet zu sagen, dass wir laufen würden, aber vom Polizeirevier zur Frenchmen Street war es ein weiter Weg, auf dem es vor Feiernden in unterschiedlichen Zuständen der Betrunkenheit nur so wimmelte. Die Musik auf der Bourbon Street pulsierte in der Luft; die vielfarbigen Lichter erhellten den Nachthimmel wie eine herannahende Dämmerung.
Wenige Minuten später setzte uns der schweigsame Beamte vor dem Rising Moon ab. Das Gebäude war dunkel und verlassen. Ich hatte erwartet, dass King bleiben würde, um zu erfahren, was passiert war. Stattdessen hatte er eine Notiz auf dem Tresen hinterlassen.
Ruf mich an. K
King hatte seine Telefonnummer unter die Worte gekritzelt.
Mit schnellen Fingern wählte ich sie, bekam aber nur seinen Anrufbeantworter dran. Wie es schien, war er nicht allzu besorgt.
„Es ist alles in Ordnung“, sprach ich auf Band. „Das Ganze war ein Missverständnis. Sie haben ihn freigelassen.“
Nachdem ich aufgelegt hatte, drehte ich mich zu John um, der auf der Klavierbank saß, die Tasten jedoch nicht berührte.
„Soll ich dich zu deiner Wohnung bringen?“, fragte ich ihn.
„Danke, ich finde meinen Weg schon allein. Ich bin kein Krüppel.“
Meine Brauen schossen nach oben. „Okay“, sagte ich langsam und ohne zu wissen, was er eigentlich von mir wollte. Ich setzte mich in einen weich gepolsterten Sessel gegenüber dem Piano und wartete.
Nach ein paar weiteren gedankenversunkenen Minuten legte John die Finger auf die Tasten und begann zu spielen. Ich kannte das Stück nicht, aber das war auch nicht wichtig. Mit geschlossenen Augen ließ ich die Emotionen auf mich einstürmen – wilder Zorn, ein Flattern von Sehnsucht, dem stürmisches Verlangen folgte. Nie zuvor hatte Musik eine solche Wirkung auf mich gehabt; ich glaubte nicht, dass sie das je wieder haben würde.
Als der letzte Ton verklang, war ich atemlos. Ich öffnete die Augen, und John stand direkt vor mir. Wie schaffte er das nur, sich so schnell und lautlos zu bewegen?
In diesem Licht wirkte der Bluterguss auf seiner Stirn gar nicht mehr so dunkel. Ich hob die Hand, um
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