Wolfspfade 6
mich zukam und mich umarmte.
Er zitterte, und ich erschrak. „Was ist los?“
„Anne“, wisperte er in mein Haar. „Anne.“
Er schien nicht fähig, mehr als das zu sagen. Aber eigentlich störte mich das nicht. Mir war bis zu diesem Moment nicht bewusst gewesen, wie sehr ich mich danach gesehnt hatte, festgehalten zu werden. Die brutale Begegnung mit Sullivan hatte mich verwirrt, verängstigt, ausgelaugt. Jetzt fing auch ich an zu zittern.
John hob den Kopf, strich mit den Lippen über meine Stirn, liebkoste meine Wange. „Dir ist kalt. Komm mit.“
Eine Hand um meinen Unterarm gelegt, die andere vor sich ausgestreckt, führte er mich ins Bad. Dort angekommen, ließ er mich los, um das warme Wasser aufzudrehen. Nachdem er die Temperatur überprüft hatte, legte er den Stöpsel ein und richtete sich auf. „Steig rein.“
Trotz der Hitze der Nacht hatte mich der Schock ausgekühlt. Zudem spürte ich als Folge davon, dass mich ein lüsterner Werwolf wie eine Lumpenpuppe hin und her geworfen hatte, inzwischen jeden Knochen. Nur zu gern wollte ich mich in das warme Wasser sinken lassen, allerdings …
„Du gehst bestimmt nicht weg?“
„Nein.“ Er trat ins Schlafzimmer und schloss die Tür zu.
Ich zog mich aus, stieg in die Wanne und hätte fast geseufzt, so gut fühlte es sich an. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen, aber kaum hatte ich das getan, sah ich Sullivan, wie er in dieser Nacht gewesen war, hörte das Echo seiner Worte, spürte von Neuem seine groben Hände.
Meine Lider flogen auf. „John?“
Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet. „Alles in Ordnung?“
„Könntest du … reinkommen? Mit mir sprechen?“
Der Spalt wurde breiter. „Du bist nicht in Ordnung.“
„Nein“, gestand ich leise.
Es entsetzte mich, wie sehr ich nicht in Ordnung war. Ich wollte nicht allein sein, was für eine alleinstehende Frau nichts Gutes verhieß. Was würde ich tun, wenn ich eine plötzliche Angst vor der Dunkelheit entwickelte?
John setzte sich auf den Wannenrand. Wäre es jemand anders gewesen, hätte ich mich möglicherweise geschämt, nackt im Wasser zu liegen, aber er konnte mich ja nicht sehen. Er würde mich niemals sehen können. Der Gedanke barg etwas Tröstliches.
„Du hast mich zu Tode erschreckt, querida .“
Querida? Mein Spanisch war nicht gut, trotzdem glaubte ich, dass es ein Kosename war. Ich wollte nicht nachfragen, für den Fall, dass ich mich irrte.
„Was habe ich denn getan?“
„Eine der Kellnerinnen sagte, dass du in die Menge hineingerannt wärst. Dann kamst du nicht zurück, und ich konnte nicht …“ Er unterbrach sich und neigte den Kopf zur Seite, sodass sich das Licht strahlend hell in seinen Brillengläsern spiegelte. „Ich konnte dir nicht folgen, Anne. Ich konnte dich nicht beschützen.“
„Ich brauche niemanden, der mich beschützt.“
Dicke, fette Lügnerin . Wäre Murphy nicht da gewesen …
Daran wollte ich jetzt nicht denken; allerdings beschlich mich der Verdacht, dass ich in den kommenden Nächten sehr, sehr oft daran denken würde.
Trotzdem würde ich John nichts von meinem Erlebnis erzählen. Manchmal war eine Lüge die beste Taktik. Er war auch so schon beunruhigt genug; ihm anzuvertrauen, dass ich um ein Haar von einem Werwolf vergewaltigt worden wäre … Was sollte das bringen?
Er senkte den Kopf und schien mich anzusehen, auch wenn die dunklen Gläser das Licht noch immer wie Sonnenstrahlen reflektierten.
John pflügte mit seinen langen, grazilen Fingern durch das Wasser und wirbelte es auf, bis es in sanften Wogen über meinen Hals, meine Brüste, meinen Bauch, meine Oberschenkel strömte. Ich schnappte nach Luft, als mein Körper zum Leben erwachte.
Was war nur an diesem Mann, das Gefühle in mir entfachte, die ich nie zuvor empfunden hatte? Gefühle, von denen ich fürchtete, sie nie bei einem anderen als ihm empfinden zu können?
„Entspann dich, querida .“ Die Art, wie er das Wort hauchte, war für sich schon eine Liebkosung. Von mir aus konnte er mich auch „Schweinegesicht“ nennen, solange er es auf diese Weise tat. „Lehn dich zurück, schließ die Augen. Niemand wird dir wehtun, solange ich bei dir bin.“
Ich registrierte den Widerspruch, noch während meine Lider zuflatterten. In der einen Minute sagte er, dass er mich nicht beschützen könne, in der nächsten, dass niemand mir wehtun würde.
Aber ich hatte John in Aktion erlebt; er hatte gegen einen messerschwingenden Irren gekämpft und gewonnen.
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