Wolfsruf
anstellte. Er hatte schreckliche
Angst. Claggart blickte sie finster an, und als Teddy ihm eine Faust entgegenstreckte, ließ er einen Derringer aus seinem Ärmel in die Hand gleiten.
»Bist du aber haarig, Bursche!« Claggarts Stimme war honigsüß. Johnny zitterte, als der Mann ihm mit der Mündung seiner Waffe über den Brustkorb strich, und die Haare standen ihm zu Berge. »Und so starke Augenbrauen … sieh mal, sogar dein Handrücken ist mit Flaum bedeckt … wie ein wildes Tier … wie ein Wolfsjunge.« Er pfiff durch die Zähne. »Ich glaube, das schätzt dein Herr so an dir, wie? Dass das weiche Fell an ihm reibt, während er dich durchmangelt? He, Wolfsjunge, ich zahl’ dir einen Dollar für dein kleines runzliges Arschloch … he, he, he.«
»Berühren Sie ihn nicht!«, warnte ihn Teddy plötzlich. »Wenn man schmutzige Sachen zu ihm sagt, dann wird er ganz komisch und verwandelt sich in jemand anders, in ein Monster.«
Jonas regte sich wieder. »Bleib weg!«, rief Johnny entsetzt. »Bleib weit weg … im Wald … wo du hingehörst.«
»Wolfsjunge!«, zischte Claggart. »Wolfsjunge!«
»Zieh dich an«, flüsterte Teddy Johnny zu, voller Angst und voller Mitleid.
Speranza saß neben dem Grafen von Bächl-Wölfling im Salonwagen. Sie schauten einander nicht an. Sie trug ihr züchtigstes Kleid und presste die Bibel an ihren Busen. Aber mit der anderen Hand streichelte sie die Hand des Grafen. Sie wagte nicht, ihn anzusehen, aber schon die Berührung von Hartmuts Fingern in ihrer Handfläche jagte ihr tiefe Schauer durch den Körper. Schließlich blickte sie doch in sein ernstes Gesicht. Er war in Gedanken versunken, erwiderte ihren Blick nicht. Letzte Nacht, dachte sie, hat er mir gestanden, dass er mich liebt.
Der Wagen war voller Leute. Sie lauschten einem Priester,
der gegen die Sünden des Fleisches wetterte. Die Predigt war von Buffalo Bills Vorführung unterbrochen worden, aber inzwischen hatte sich der Star-Entertainer der U. P. mit ein paar passionierten Jägern in einen Privatwagen zurückgezogen, während die Büffelkadaver irgendwo weit hinter ihnen liegen blieben, und der Priester hatte seine Predigt wieder fortgesetzt.
»Dem aber, der einer fremden Frau beiwohnt, gar den Lüsten Sodoms frommt oder sich jenen Sünden hingibt, die man allein begeht«, donnerte seine Stimme über das Rattern des Zuges, »dem ist das ewige Feuer gewiss. Der Herr sieht alles, was ihr tut, und niemand vermag den Zorn des Allmächtigen abzuwenden. Ich bringe nicht Frieden, sondern das Schwert. Wenn ihr eines anderen Mannes Weib begattet, dann endet ihr in der Hölle, so sicher, wie auf die Nacht der Tag folgt. Teufel mit gespaltenen Schwänzen und gespaltenen Zungen werden euch das Fleisch mit glühenden Spießen vom Leib fetzen, sie reißen euch die Köpfe vom Rumpf und setzen sie wieder auf, fünfzig-, sechzigmal am Tag … grässlich und grauenhaft sind die Qualen der Hölle! Und wenn der Herr sieht, wie ihr Hand an euch legt, dann wird euch eure Männlichkeit aus dem Unterleib gerissen und den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen werden, nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder, bis ihr nach Gnade wimmert, aber dann ist es zu spät, es sei denn, ihr bereut … bereut … Aber wehe all jenen, die bei den Männern wie bei den Frauen liegen! Eure tiefste Körperöffnung wird immer wieder mit glühenden Spießen gepfählt werden …«
Der Graf begann zu kichern. Ein paar Passagiere drehten sich missbilligend zu ihm um.
»Ha!«, tobte der Prediger. »Noch macht ihr euch über mich lustig, aber auch ihr werdet in der Hölle einst bereuen …«
Abrupt erhob sich der Graf. Ein paar Augenblicke herrschte Stille, Speranza sah in seiner Miene einen schrecklichen Groll,
den er kaum zügeln konnte. Gefährlich leise sagte er: »Sie wissen überhaupt nichts über die Hölle, Reverend, Sie haben ihr keine Gerechtigkeit widerfahren lassen; ich darf das sagen, denn ich spreche aus eigener Erfahrung.«
Er drehte sich um und ging aus dem Wagen.
7
Deadwood
Halbmond, zunehmend
Ein grauer Morgen in Deadwood: Vor der Kirche lagen bunte Bänder, die von unzähligen Füßen in den Schlamm getrampelt worden waren. Die Minenarbeiter zogen den Hügel hinauf, mit dampfendem Atem und wehenden Schals. Der Wind heulte über den Gehsteig. Steckbriefe flatterten an den Holzwänden. Alte Weiber humpelten, die Hauben tief in die Stirn gezogen, gegen den Wind an. Der spielte mit den Hüten der Kinder und den Zöpfen der
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