Wolfsruf
ich desertieren, so wie du?« Sein Vater war nie desertiert, nicht einmal, als er wusste, dass die Konföderierten keine Chance mehr hatten. Er war auf seinem Posten geblieben.
Aber damals gab es noch so etwas wie Ehre. Pflicht, Ehre, Selbstachtung - alles schien in den Sechzigerjahren viel klarer gewesen zu sein.
»Geh zurück. Sag ihnen, du hättest meine Spur verloren. Oder dass ich dich in einen Hinterhalt gelockt hätte und du mich nicht fangen konntest.«
»Aber sie werden dich trotzdem suchen, Zeke.«
»Wenn du mich jemals wiedersiehst, Scott Harper, dann töte mich.«
»Gut.«
Die Frau sagte etwas auf Lakota. »Sie will, dass ich dich töte und deinen Skalp ins Dorf mitbringe. Damit könnte ich mir wieder etwas Respekt verschaffen, den ich verloren habe, als ich den Stamm vor so vielen Jahren verließ.«
»Vielleicht solltest du das tun«, schlug Scott vor.
»Schätze schon. Du siehst, mein Freund, dass auch ich hinund hergerissen bin. Am besten gehst du, bevor einer von uns etwas tut, was er für den Rest seines Lebens bereuen muss.«
Scott drehte sich um.
»Ich will das Pferd«, rief Zeke ihm nach. »Der alte Klepper, den Grumiaux uns überlassen hat, kann uns nicht beide bis ins Sioux-Territorium tragen, und es sind zu Fuß höchstens vier, fünf Stunden bis Deadwood. Da kriegst du ein frisches Pferd. Erzähl dem Major, dass ich dir das Pferd geklaut hätte, als ich dir einen Hinterhalt gestellt hab. Wenn sie mich kriegen, dann hängen sie mich sowieso, daran ändert ein Pferdediebstahl auch nichts mehr, wirklich nich’.«
Scott drehte sich um und ging zum Weg zurück.
8
Ogllala, Nebraska
Halbmond, zunehmend
Nacht. Speranza erwachte aus unruhigem Schlaf. Es war der gleiche Traum wie jede Nacht: der Wald, der Bach, das Heulen, das Wasser rot und warm wie Blut. Und der Geliebte, der an der Quelle auf sie wartete.
Sie setzte sich auf. Jetzt war sie hellwach. Im Privatwaggon des Grafen war es dunkel bis auf die Flamme einer einzelnen Kerze neben dem Bett. Der Graf lag schlafend neben ihr. Er war nackt. Die Unschicklichkeit störte sie nicht mehr, wie sollte sie auch? Ich bin eine gefallene Frau, sagte sie sich, und ich schäme mich nicht einmal. Feines, silbernes Haar bedeckte seine Brust, seine Arme. Seine Stirn lag in Falten, als würde er im Schlaf über etwas nachgrübeln. Seine Augenbrauen trafen sich in der Mitte. Sie berührte vorsichtig seinen Arm. Er bewegte sich nicht. Er schnarchte nicht; er schien kaum zu atmen.
Sein Geruch blieb an ihren Fingerspitzen haften. Der Geruch nach feuchter Erde und Tierschweiß.
Sie schlüpfte aus dem Bett und warf einen seidenen Morgenrock über ihr Nachthemd. Sie zündete eine Kerze an der neben dem Bett an, steckte sie in einen Halter und schlich sich fort. Eine spanische Wand teilte den Schlafraum vom Salon ab, wo der Graf seinen Kaffee zu sich nahm. Es gab einen Holzofen, das einzige unpassende Möbelstück in der luxuriösen Ausstattung. Die Scheite warfen einen rötlichen Schimmer über den Onyx-Tisch mit der Union-Pacific-Karte, die orientalische Vase mit den welken, einige Wochen alten Rosen und das Ebenholz des Mobiliars. Es gab eine mit lila Samt bezogene Chaiselongue, auf der Johnny oft schlief. Sie war leer. Speranza fragte sich, wohin der Knabe wohl gegangen war. Bestimmt strolchte er wieder mit diesem Zeitungsjungen herum! Immer noch waren viele Menschen auf; obwohl es bereits nach Mitternacht war, wurde in einem der Salonwagen noch Poker gespielt.
Sie setzte sich in den Sessel und schloss die Augen, aber der Traum ließ sie nicht los. Sie stand auf, um den Vorhang ein Stückchen zurückzuziehen. Der Halbmond warf ein gespenstisches Licht auf die große Ödnis, die sich um sie herum erstreckte, so weit das Auge reichte. Das Gras wogte wie Büschel silberner Fäden. Sie fragte sich, was für eine Frau die Geliebte des Grafen wohl sein mochte - jene Frau, die er vorausgeschickt hatte, um den Lagerplatz auszusuchen - und ob er sich von dieser Natalia Petrowna Stravinskaya bereits wieder entliebt hatte. Hatte er das damit gemeint, als er ihr von seiner Schwäche eingestanden hatte, von seiner Unfähigkeit, jene zu lieben, die er in eine der ihren verwandelt hatte?
Bin ich die Nächste, dachte sie.
Sie lehnte sich ans Fenster. Prärie, nichts als Prärie. Sie versuchte, die Augen offen zu halten. Aber noch im Stehen wiegte sie das stete Rattern und Schaukeln des Zuges wieder in Schlaf, in ihren Traum.
In ihrem Traum hatte sie
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