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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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denn jeder mitreisende Priester und Prediger erhielt Gelegenheit zu einem Gottesdienst in einem der Salonwagen. In der zweiten und dritten Klasse wurden eigene Gottesdienste abgehalten, denn in jeder Klasse reisten genügend Geistliche mit, und manche der wagemutigeren Diener des Herrn aus der
ersten Klasse nahmen es sogar auf sich, den ganzen Zug zu durchstreifen und jedem zu predigen, der für das Wort Gottes empfänglich schien.
    Johnny erforschte den Zug auf eigene Faust. Hinter den Wagen der dritten Klasse war noch ein Pferdewaggon angekoppelt; er konnte die Tiere wiehern hören und riechen. Sie waren nervös. Der Geruch weckte Jonas auf, und Johnny wollte nicht länger bleiben, deshalb schlenderte er zurück zu seinem Wagen, wo ihn Speranza mit dem Frühstück und dem Lateinbuch erwartete.
    Es gab viele Geistliche, aber leider nur wenige Gläubige; denn eine Stunde nach Sonnenaufgang, als gerade der Bahnhof von North Platte am Horizont verschwand, wurde eine Büffelherde gesichtet. Johnny sah, wie sich die Passagiere um die Fenster scharten und auf den Plattformen drängten. Das Frühstück war bereits beendet. Er entwischte Speranza wieder und machte sich auf die Suche nach dem Zeitungsjungen.
    Er konnte kaum einen Blick nach draußen erhaschen. Die Menschen drängten sich in dem einzigen Salonwagen, in dem kein Prediger seiner Berufung nachging. Es war ein Wald von Beinen; Beinen in faltigen, maschinengenähten Jeans, in alten Sackhosen, die nach Schweiß und Alkohol und altem Urin stanken; in eleganten goldbesetzten Beinkleidern - und unter Frauenröcken mit raschelnden Tournüren, deren Satin und Baumwolle die Gänge versperrten. Für einen kleinen Jungen, der zwischen all diesen Beinen steckte, gab es nicht viel zu sehen.
    »Teddy!« Er entdeckte seinen Freund, der sich mit neuen Zeitungen in der Lederschürze durch die Menge wühlte. Er trug einen viel zu großen Schlapphut, der ihm tief in die Stirn hing. Deshalb hatte Johnny ihn vorhin nicht erkannt. »Hier bin ich!«
    »Komm!«, sagte Teddy und nahm ihn bei der Hand. »Hier unten siehst du überhaupt nichts. Ich kenn’ einen besseren Platz.«

    Er zog Johnny nach draußen. Die Plattform zwischen den zwei Waggons war überfüllt. Schüsse in der Ferne. Ängstlich drückte Johnny die Hand seines Freundes fester. »Hier lang!«, kommandierte Teddy.
    »Ich muss doch sehr bitten, junger Mann!«, empörte sich eine alte Frau und versetzte ihm mit ihrem Sonnenschirm einen Hieb auf den Hintern. Er feixte sie an und arbeitete sich dann ans Geländer vor. Eine Leiter führte auf das Dach. »Schnell!«, drängte er.
    Johnny kletterte ihm hinterher. Der Fahrtwind blies ihnen die Haare in die Augen. Teddy half ihm aufs Dach. Er stand auf. Teddys Schlapphut wurde ihm vom Kopf geweht, und er rannte hinterher, mit weit ausgebreiteten Armen, um die Balance nicht zu verlieren.
    »Scheiße! Ich hab den Scheißhut verloren!« Johnny beobachtete, wie Teddy in die Luft boxte. Der Wind wirbelte den Hut hoch wie einen riesigen, unförmigen Vogel. »Du beschissener gemeiner diebischer Gauner!«
    »Es war doch nur der Wind … du kannst gar nichts dagegen machen!«, rief ihm Johnny zu.
    Teddy zuckte mit den Achseln. »Na, dann muss ich mir eben einen neuen klauen.«
    Der Zug schaukelte, und Rauch schlug ihnen ins Gesicht. Es war ein fantastisches Gefühl - der Wind peitschte sie, die Prärie erstreckte sich endlos zu beiden Seiten, das dünne Metallband teilte die grüne Welt in zwei Hälften. Als würden sie auf dem Rücken eines feurigen eisernen Drachens durch den Wind reiten. Rechts, im Norden, lag ein riesiger, unruhiger brauner See, der sich auf sie zubewegte - wirbelnd, brodelnd, aufschäumend. Johnny konnte kein einzelnes Tier ausmachen, aber er wusste, was das sein musste.
    »Das ist … großartig!«, jubelte er. »Es müssen Hunderte sein. Tausende!«
    »Das ist noch gar nichts. Bevor die Büffeljäger gekommen
sind, waren es Millionen in einer Herde, Millionen. Man konnte keinen einzigen Grashalm sehen, von einem Ende der Welt bis zum anderen.«
    Sie fuhren jetzt direkt auf die Herde zu, und Johnny hörte immer mehr Schüsse. Hinter dem Scheppern der Kupplungen, hinter dem Zischen der Lokomotive und dem Pfeifen des Windes donnerten jetzt Hufe - und die grellen Schreie der Jäger ertönten. »Schau mal!«, rief Teddy. »Da kommt Buffalo Bill!«
    »Wer ist das?«, fragte Johnny.
    Ein Jäger mit einem flachsgelben Schopf jagte einer Gruppe Reiter voran auf die Herde

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