Wolfsruf
er fühlte sich nicht verdammt. »Ich bin kein Teufel«, murmelte er vor sich hin, »und auch wenn sie behaupten, dass meine Seele nicht mehr zu retten ist, so weiß ich doch, dass das nicht wahr ist.« Zu dem Jungen sagte er: »Komm, wir gehen zu Zeke.«
Die Werwölfe hielten Rat. Das Frühstück wurde serviert, obwohl niemand Hunger zu haben schien. Hin und wieder fiel leichter Nieselregen, dann eilten die Diener zu ihren Herrschaften und bauten sich mit hoch erhobenen Schirmen hinter ihnen auf. Es gab italienische Spezialitäten und Brot, das bald matschig wurde. Aber niemand aß. Ihre Mienen wirkten wie in einem Freudentaumel, der allerdings durch die Sorge um den verschwundenen Johnny gedämpft wurde.
Speranza saß auf einem Stuhl neben dem Sessel des Grafen; sie fürchtete Natalias Groll und ahnte, dass von Bächl-Wölflings Nähe ihr wenigstens etwas Schutz bot. Sie waren alle versammelt, sogar der gebrechliche Dr. Szymanowski, der auf einem Diwan lagerte und eine Schale mit gewürztem Rotwein schlürfte. Alles drehte sich um das Kind, das Kind.
»Ich habe dich gewarnt«, erklärte Natalia Petrowna, »in meinem Brief.« Ihr Cousin Vishnevsky ergänzte bitter: »Wir haben Ihnen treue Dienste geleistet, Graf. Vielleicht hätten Sie uns mehr vertrauen sollen …« Er schaute Speranza direkt in die Augen, und sie wusste, dass er sie hasste, weil sie Natalias Platz eingenommen hatte; und Natalias Wohlbefinden war alles, wofür er noch lebte.
»Solange sie meinen Sohn gefangen halten«, sagte der Graf, »müssen wir vorsichtiger sein. Vielleicht wollen sie ihn als Geisel verwenden … vielleicht lassen sie ihn nicht frei, bevor wir umdrehen und diesem Land unseren Schweif zuwenden.«
»Es sind primitive Wilde!«, widersprach die Baronin von Dittersdorf. »Sie werden uns kaum Widerstand leisten; wir werden sie ausrotten wie Unkraut.«
»Sie sind nicht bloß Wilde«, meinte der Graf. »Sie sind nicht nur Beute für uns. Haben Sie nicht den Schutzkreis des Alten gesehen? Nicht einmal ich, der Führer, konnte auf den Platz vordringen, wo er den Knaben gefangen hielt. Und sie haben uns beobachtet, auf uns gewartet. Ich bin sicher, dass ich diesen alten Mann schon im Zug gesehen habe, obwohl ich seine Witterung
damals nicht aufnahm; irgendwie gelang es ihm, seine Fährte zu verbergen, obwohl ich glaube, dass er mit meinem Sohn kommunizierte.«
Dann sprach Dr. Szymanowski. »Vielleicht«, schlug er vor, »verdienen sie es, studiert zu werden, vielleicht sollten wir einige Experimente mit ihnen anstellen. Wir sollten sie nicht vorschnell auslöschen.«
Und Chandraputra, der als Einziger aß, sagte: »Ich verstehe nicht, warum wir uns solche Sorgen machen, er war sowieso nur zur Hälfte wie wir, nicht wahr? Ich habe noch nie etwas von Rassenvermischung gehalten.«
Speranza dachte: Jetzt bin ich allein. Nur wegen Johnny kam ich aus Europa hierher. Ich habe niemanden, dem ich vertrauen kann. Die Diener sind den Wölfen gegenüber loyal; selbst der kleine Halbindianer ist fort.
Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt. Sie wusste, dass sie so etwas wie Liebe für den Grafen empfand. Sie musterte die Mitglieder des Lykanthropenvereins, und sie erkannte, dass sie eine Art Familie bildeten und dass sie eine Außenseiterin war, nur eine Zuschauerin; sie beobachtete, wie sie sich in ihrer Geheimsprache verständigten, die aus Blicken und Gesten bestand und deren Bedeutung sie erst langsam zu erahnen begann. Sie gehörte nicht hierher. Sie spielte mit dem Gedanken, einen Fluchtversuch zu wagen, nach Europa zurückzukehren. Aber sie hatte kein Geld; und was erwartete sie in Aix-en-Provence?
Mit Entsetzen wurde ihr bewusst, dass es in ihrem neuen Leben Dinge gab, die sie tatsächlich genoss. Der Zugüberfall und seine unerwartete Wendung hatten sie angeregt. Dass der Mann, der sie jede Nacht liebte, auch ein Tier war, war abstoßend, aber zugleich fand sie ihn unwiderstehlich und erregend. Nein, sie konnte nicht zurück. Was war, wenn sie Johnny fanden, nachdem sie den Lykanthropenverein verlassen hatte, und er allein, ohne Freund, den Weg in den Wahnsinn beschreiten
würde? Nein. Alles, was für sie Bedeutung besaß, war hier: alles, was sie liebte, alles, was sie hasste.
Die Erwähnung Johnnys riss sie aus ihren Gedanken. Von Bächl-Wölfling sagte: »Ganz offensichtlich müssen diese Wilden wissen, wohin der Junge gebracht wurde. Sie sind selbst keine Lykanthropen, sonst hätten sie sich verwandelt; der alte Mann war
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