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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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allein, ein Ausgestoßener vielleicht und zu alt, um sich noch in einen Wolf verwandeln zu können. Aber es muss eine Wolfssiedlung irgendwo im Territorium geben. Ganz offenbar gibt es hier nur Beute für ein Lykanthropenrudel. Sie haben bestimmt das Land markiert. Wir dürfen nicht ruhen, bevor wir ihn gefunden haben.«
    »Obwohl es interessant wäre«, wandte Dr. Szymanowski trocken ein, »wenn sie beschließen würden, ihn als einen der ihren aufzuziehen, denn wir wissen noch nicht, ob diese Wesen genau wie wir selbst sind oder ob sie anderen Gesetzen unterliegen, die wir nicht kennen … ob Silber sie verletzen kann, zum Beispiel. Es wäre von wissenschaftlichem Interesse, das Kind von diesen nicht perfekten Versionen unser selbst erziehen zu lassen …«
    »Nicht mein Kind!«, schnitt ihm der Graf das Wort ab.
    Und Speranza dachte: Er ist nicht durch und durch schlecht. Er liebt seinen Sohn, wie ein Mensch sein Kind liebt.
    Sie klammerte sich an diese menschlichen Züge; sie wusste, dass sie für alles Menschliche an ihm dankbar sein musste.
    Denn sie brauchte das, um ihm ihre Liebe schenken zu können. Wenn sie bei ihm blieb, wenn sie ihn ständig an seine menschlichen Gefühle erinnerte, dann würde er der Dunkelheit nicht vollkommen anheimfallen.
     
    Scott Harper beobachtete, wie der Medizinmann Beschwörungen murmelte und ein Bündel heiliger Objekte über Zekes zerfleischtem Körper wedelte. Dann hievten zwei Krieger den Leichnam auf eine Plattform. Ein dreifarbig bemalter Büffelschädel
wurde zu seinen Füßen aufgestellt. Sie hatten alle seine Überreste aufgesammelt und sie wie ein Puzzle zusammengesetzt.
    Teddy meinte: »Dafür sollte man die Wölfe kaltmachen.« Er hatte eine der Frauen um die Whiskyflasche erleichtert, die seine Mutter weggeschenkt hatte, und hatte mehr als seinen Anteil getrunken. Aber Scott ließ ihn gewähren.
    Scott kannte die Bibel nicht allzu gut, deshalb murmelte er nur ein Vaterunser und alles, was er vom dreiundzwanzigsten Psalm noch wusste. Teddy kannte den Text nicht, deshalb sprach er ein Gebet auf Lakota. Er bat Scott, zu Wakantanka zu beten. »Schätze, Gott nimmt’s dir nicht krumm, wenn du ihn so anredest«, sagte er.
    Das Ritual der Indianer war würdevoll und ernst; keineswegs bestand es aus jenem Geheule und Gekreische, das nach Major Sandersons Ansicht die einzige Religion der Sioux darstellte. Der Älteste sang mit zitternder Stimme, die von dem regelmäßigen Schlag der Trommel akzentuiert wurde.
    Aber während der ganzen Feierlichkeiten murmelte Teddy ununterbrochen vor sich hin: »Scheiß Wölfe … verdammte Ficker … gehören kaltgemacht, lebendig verbrannt, mit Blei vollgepumpt, aufgeschlitzt … verdammte Ficker.«
    Er konnte das Ritual nicht mehr mit ansehen, deshalb gingen Teddy und er den Hügel wieder hinunter, zurück zum Lager. Als sie dort ankamen, war Little Elk Womans Tipi bereits abgebaut und sie selbst nirgendwo mehr zu sehen. Der Regen trommelte auf den blanken Boden. Die anderen Frauen waren mit ihren neuen Sachen verschwunden.
    »Verdammte Mistficker«, sagte Teddy.
    »Du solltest nicht so reden«, meinte Scott. »Schließlich glaubst du, dass ich auch einer von ihnen werde. Es sei denn, du willst mich auch umbringen.«
    Der Gedanke schien Teddy ein bisschen zu ernüchtern. Er wich vor Scott zurück, und in seinen Augen stand aufrichtige
Angst. Deshalb sagte Scott: »Ich werde dir beweisen, auf welcher Seite ich stehe. Wir werden uns rächen. Du und ich und die Menschen aus diesem Dorf … wenn sie wollen …, wir werden diese Hurensöhne aufspüren und sie abknallen.«
    »Hast du Silber?«, fragte der Junge. »Ich hab zwei Dollar, die wir zu Kugeln schmelzen können.«
     
    Der Planwagen schaukelte nach Norden. Das Ziel war nur noch wenige Tagesreisen entfernt, und die Erwartung, die Vorfreude steigerten sich mit jedem Tag. Die Wölfe hatten reiche Beute im Land gefunden, wie Dr. Szymanowski es prophezeit hatte; bald würden sie die neue Heimat erreichen, von der sie alle schon so lange träumten. Nur Speranza war allein.
    Sie saß in ihrem Wagen und schaute nicht nach draußen, denn diese Landschaft hätte sie zu Tränen gerührt. Und irgendwann fiel ihr etwas ein, das zu vergessen sie sich so bemüht hatte: ein kleines Päckchen, das in Chicago auf sie gewartet hatte und das sie in einen Kasten mit allerlei unnützen Kleinigkeiten aus Europa geworfen hatte. Es war ein Brief von Freud; sie hatte ihn nicht lesen wollen, aus Angst, sich zu

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