Wolfsruf

genau an jenen grauenhaften Wiener Winter zu erinnern.
    Jetzt wurde ihr klar, dass sie in Wahrheit den Brief für einen Augenblick absoluter Einsamkeit aufbewahrt hatte. Der Planwagen roch nach Moschus und Tierurin und nach teurem Rotwein, der am Morgen verschüttet worden war. Sie drehte die Flamme der Kerosinlampe vorsichtig größer, denn die Straße war holprig, und sie wollte nicht, dass die Plane Feuer fing. Dann brach sie das Siegel auf - es trug eine lateinische Aufschrift über dem Wappen der Universität Wien - und las den Begleitbrief.
     
    Chère Mademoiselle Martinique,
    mit großer Besorgnis habe ich Ihren letzten Brief gelesen. Ich weiß, dass die Mitglieder der Bruderschaft, welcher der Graf vorsteht, sehr exzentrisch sind, aber ich erwartete nicht, dass Sie sich von ihrer
sehr speziellen Dementia anstecken ließen, denn Sie scheinen eine sehr sensible Frau zu sein und Traum und Wirklichkeit sehr wohl auseinanderhalten zu können; aus genau diesem Grund erachtete ich es als wichtig für den kleinen Johnny, jemanden wie Sie als Halt zu haben.
    Mademoiselle, ich schicke Ihnen anbei einen kleinen Vorrat jenes Koka-Pulvers, das Sie während Ihres Aufenthalts in Wien so schätzten; vielleicht verleiht es Ihrem Geist jenen transzendentalen Frieden, dessen Sie bedürfen, um dem Wahn, der Sie von allen Seiten bedroht, widerstehen können.
    Mit vorzüglicher Hochachtung sowie größter Wertschätzung und Bewunderung Ihr
    Sigmund Freud
     
    Ein kleines Säckchen mit Kokain lag in dem Päckchen, sorgfältig in preußisch-blauen Samt gehüllt. Sie schüttete sich eine Prise auf die Handfläche und überlegte einen Augenblick, ob sie ihn nehmen sollte. Der Puder hatte ihr damals geholfen, den Wiener Winter zu ertragen, aber sie fürchtete, davon abhängig zu werden, so wie andere von Tabak oder Hanf abhängig waren.
    Woher sollte ich mitten in der Wildnis dieses Mittel beziehen, wenn ich darauf angewiesen war?, dachte sie. Und doch - das Koka kam aus Amerika, ich bin also näher an der Quelle, nicht weiter davon entfernt.
    Der Wagen holperte über irgendein Hindernis, und das weiße Pulver flog ihr aus der Hand auf das raue Holz. Ich darf es nicht verschwenden, dachte sie und erinnerte sich plötzlich an ihre Familie in Aix-en-Provence, die so viel Wert auf Sparsamkeit legte; sie ließ sich auf Hände und Knie nieder, um es wieder aufzulesen. Und bevor sie sich besann, hatte sie bereits eine kleine Prise inhaliert; schnell wirkte die Magie des Pulvers auf sie, eine Magie, die viel stärker und verführerischer war als Schnupftabak oder Laudanum.

15
    Deadwood
    Zwei Nächte nach Vollmond
     
    Cordwainer Claggart wartete bis lange nach Einbruch der Dunkelheit, bevor er sich in die Stadt wagte. Wahrscheinlich würde es niemanden hier interessieren, dass er in Big Springs gesucht wurde, aber man konnte nie wissen -
    Die Diener des Grafen hatten ihn bis an den Stadtrand gebracht. Sie nahmen sein Pferd mit, um sicherzustellen, dass er nicht umkehrte. Es war ihm gleichgültig. Für ihn war jetzt die Zeit gekommen, mit seiner Frau Frieden zu schließen, auf welche Weise auch immer. Er brauchte ihr Geld.
    Verstohlen arbeitete er sich zu ihrem Haus vor. Als er auf der Veranda angekommen war, musste er daran denken, welch ein Glück ihm beschieden war, dass es ihm gelungen war, das Vermögen der Witwe Bryant in seine Verfügungsgewalt zu bekommen, obwohl kein Priester ihre Verbindung gesegnet hatte; aber Claggart hielt ohnehin nichts von derlei Zeremonien: Ein Priester war keinen Deut besser als ein Schlangenölkurpfuscher - er war beides gewesen und wusste das aus Erfahrung.
    Was für eine Tür, dachte er: poliertes Mahagoni mit einer Buntglasscheibe und allem Drum und Dran. Er konnte sogar die Zeichnung erkennen, weil drinnen eine Kerosinlampe brannte.
    Er öffnete die Tür, hängte seinen Schlapphut an den Haken, zog, weil er Sally Bryant eine Überraschung bereiten wollte, auch seine Schuhe aus und stellte sie neben der Tür ab. Woraufhin ein solch übler Gestank von seinen Füßen aufstieg, dass er beinahe vergessen hätte, weswegen er nach Deadwood gekommen war.
    Sally hatte sich zu einem rechten Klotz am Bein entwickelt, seit er ihren Besitz in seine Gewalt gebracht hatte, und sie
würde sich seinen neuesten Plänen höchstwahrscheinlich mit aller Kraft widersetzen. Er würde sie vielleicht sogar töten müssen, das war ihm klar - oder zumindest irgendeinen Unfall inszenieren.
    Er hörte ein leises Geräusch von oben.