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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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den Inhalt auf einen Tisch. Dann begann er, seine Karteikärtchen zu sortieren. Ich starrte auf den Papierberg vor mir.
    Ein Schnellhefter mit dem Vermerk Jonas Kay war darunter. Deshalb hatte Preston mich also hierher gebracht.
    Ich öffnete ihn. Ein paar Bilder segelten zu Boden. Es waren Reproduktionen der Fotografien, die ich im Zimmer von J. K. an der Wand gesehen hatte. Ich betrachtete sie genauer. »Ich finde nicht, dass sie mir ähnlich sieht.«
    »Du hast Speranzas Augen«, antwortete Preston, ohne aufzusehen.
    Ich nahm mir das erste Bild vor. Es war eine merkwürdige Gruppe. Zuerst studierte ich den Mann, den J. K. als »den Grafen« bezeichnet hatte; dann die Frau, die mir ähnlich sehen sollte, und den kleinen Jungen. Es waren noch mehr Leute auf dem Bild; ein Herr mit Turban, der in elegante Seide gekleidet schien; eine alte Frau in Schwarz mit grausamen Augen in einem Fuchsgesicht; ein harmloser, dürrer alter Mann mit einer schwarzen Tasche. Im Schatten standen noch mehr Menschen. Sie waren kaum zu erkennen. Danach schaute ich mir das Foto mit dem Bahnhof an, dann das vor dem Saloon - schließlich das auf der verschneiten Prärie.

    »Ist das nicht Weeping Wolf Rock im Hintergrund?«, fragte ich.
    »Ja.«
    Ich kramte weiter in den Akten. Ein paar Zeitungsausschnitte mit detaillierten Beschreibungen der Morde. Das Papier war gelb und brüchig. Ich brauchte sie nicht zu lesen, ich hatte meine eigenen Kopien. Außerdem Notizen, Berichte, Diagnosen. »Kann ich mir die ausleihen?«
    »Schätze schon. Es sind sowieso Kopien. Die Originale sind in La Loges Büro. Ich bin auf diese Sachen gestoßen, als ich die Akten sortiert habe. Ich dachte, vielleicht kannst du damit was anfangen.«
    »Danke.« Preston erstaunte mich immer mehr. Er schien mir helfen zu wollen. Aber ich hatte das starke Gefühl, dass er mir Informationen vorenthielt - dass er wartete, bis ich die richtigen Fragen stellte. Dass er mit mir spielte.
    Ich schaute mir die Bilder noch einmal an. Das letzte wirkte eigentümlich traurig; der Graf und die strenge Frau wirkten verloren in der weiten Landschaft. »Warum heißt er überhaupt Weeping Wolf Rock?«, fragte ich.
    »Das ist die erste vernünftige Frage«, antwortete Preston.
    Frustriert wartete ich.
    »Der Fels«, erklärte er, »markiert die Grenze der heiligen Grabstätten des Stammes der Shungmanitu.«
    »Von denen habe ich noch nie etwas gehört«, gestand ich. »Und wenn man bedenkt, dass wir zusammen in Murphys Indianischen Studien waren …«
    »Sie sind ausgestorben.«
    »Aber bei Murphy haben wir auch über ausgerottete Stämme gesprochen … die Miami, die Delaware …«
    »Die Shungmanitu wurden nicht vom weißen Mann ausgerottet«, sagte Preston. »Sie beschlossen auszusterben. Niemand kennt ihren wahren Namen. Shungmanitu ist das Lakota-Wort für Wolf. Wir wissen nicht, wie sie sich selbst
nannten. Sie lebten nördlich von hier in den Wäldern, jenseits der Prärie.«
    »Willst du … ist das … irgend so eine Touristengeschichte?«, fragte ich misstrauisch. Immerhin hatte ich das Fach »Indianische Studien« mit einer Eins abgeschlossen. Preston schnaubte und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Er würde keine Kompromisse eingehen. »Aber warum sollten sie beschließen auszusterben?«
    »Das verstehst du nicht. Aber ich werde dir sagen, wer alles darüber weiß. Dein Freund J. K.«
    »Warum sollte er …«
    »Du musst ihn nur im richtigen Augenblick erwischen, wenn du verstehst, was ich meine.«
    Wir hörten ein Schlurfen nebenan. »Scheiße«, zischte Preston, »er ist entwischt.« Er riss die Tür auf. Ich folgte ihm.
    Es war J. K. Aber er bewegte sich so schnell, dass er kaum zu erkennen war. Seine Gesichtszüge wandelten sich, während er an mir vorbeirannte … Blut schoss ihm in die Augen. Ein paar Pfleger jagten ihn. Er sprang auf ein Bücherregal. Staub wirbelte auf.
    »Komm sofort runter!«, brüllte ein Pfleger. Er hielt eine Zwangsjacke bereit.
    J. K. funkelte ihn herausfordernd an. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft - ein Geruch nach feuchtem Waldboden, nach wildem Tier. J. K. knurrte. Er war jetzt auf allen vieren, hockte breitbeinig auf dem Regal und hieb mit der Hand in die Luft.
    Ich wollte zurück ins Hinterzimmer laufen. Aber Preston hielt mich fest. »Das ist seit Jahren nicht mehr passiert«, flüsterte er. »Es ist deinetwegen. Du hast etwas in ihm aufgeweckt. Etwas, was lange geschlafen hat. Und die Ärzte haben geglaubt, sie hätten es getötet.« Ich

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