Wolfsruf
Boden.
Ich schaute mich um. Chaos. Ein ungemachtes Bett. Auf dem Laken zwei Blutflecken.
Ich begann gar nicht erst darüber nachzudenken, was das zu bedeuten hatte. Ich rannte zurück zu meinem Zimmer und holte die Wagenschlüssel. Irgendwie gelangte ich nach unten. Am Empfang saß ein Wachmann, aber er schlief tief und fest. Als ich ins Freie trat, packte mich die Kälte. Ich trug nichts außer meinem Nachthemd und einem dünnen Morgenrock, aber ich konnte nicht zurück. Ich stürzte die Treppe hinunter, fand den Impala auf dem Parkplatz, drehte die Heizung auf und fuhr in Richtung Winter Eyes.
Es hatte aufgehört zu schneien. Der Mond stand voll und groß am Nachthimmel.
Ich bog auf die Straße ein. Sie war nicht geräumt. Ich schlitterte durch Winter Eyes, redete mir immer wieder ein, dass ich grundlos in Panik geraten war, dass mir das alles morgen früh schrecklich peinlich sein würde. Aber ich drehte nicht um. Ich parkte den Wagen in einer Seitenstraße und machte mich auf den Weg zum Friedhof.
Der Wind brüllte. Meine Haut brannte und fühlte sich rissig an. Die Ohren taten mir weh. Ich blieb nicht stehen. Ich stolperte durch die Zaunlücke, durch den Schnee. Ich sah tiefe Schuhabdrücke. Und andere Abdrücke, vierzehig, mit Klauen. In der Luft hing der moschusartige Geruch, der mir schon in der Bibliothek aufgefallen war. Mein Morgenrock war durchnässt, und das Wasser gefror mir auf der Haut. Während des Laufens fiel mir mein Traum wieder ein - war es ein Traum, das Gefühl, durch den verschneiten Wald zu laufen, mit eiskalter Schnauze und hoch erhobenem Schweif. Ich lief.
Ich kam in die Geisterstadt. Das morsche Holz krachte, als ich auf den Gehsteig trat. Neben den Schuhabdrücken zog sich eine dunkle Spur über den Schnee. Ich konnte nicht erkennen, ob es Blut war. Im Mondlicht schimmerte sie dunkel; sie hatte einen silbernen Rand. Da war der alte Saloon.
Ich trat ein.
Die Türen schwangen quietschend auf; sie schwangen hin und her, hin und her. Drinnen war es stockdunkel. Ich lauschte, ob ich Atemgeräusche hörte. Einmal glaubte ich, ein Heulen zu hören, aber es war der Holzboden, der unter meinen Füßen knarrte. Behutsam tastete ich mich zum Hinterzimmer vor. Die Tür war geschlossen.
Zwischen der Tür und dem Boden drang ein gelber Lichtstreifen heraus. Die Dielenbretter vor der Tür waren mit geronnenem Blut verklebt.
Ich schlich mich an die Tür. »Preston«, flüsterte ich.
Ich klopfte zaghaft.
Ich drückte die Tür auf.
Auf dem Nachttisch leuchtete eine kleine Kerze auf einem Unterteller. Sie war fast niedergebrannt. Im flackernden Licht sah ich Preston auf dem Bett liegen. Er war vom Hals abwärts zugedeckt. Seine Augen waren offen. »Du hast mir Todesangst eingejagt«, sagte ich leise. Er bewegte sich nicht.
Ich setzte mich neben ihm aufs Bett. Ich strich ihm über das
Haar. Sein Gesicht war kalt, zu kalt, und er blinzelte nicht. Ich berührte sein Kinn, streichelte seinen Hals. Meine Hand glitt auf seinen Brustkorb. Plötzlich berührte ich etwas Nasses, Glitschiges. Ich zuckte zurück. Das Laken rutschte zur Seite, und ich sah, dass Prestons Bauch aufgerissen war. Seine Eingeweide lagen dampfend in der Öffnung. Ich machte einen Schritt zurück. Das Laken fiel zu Boden. Ich sah, dass sein Penis abgeschnitten war. Jetzt erst merkte ich, dass er auf dem Nachttisch lag, direkt neben der Kerze. Er hatte die ganze Zeit dort gelegen, aber es war mir nicht in den Sinn gekommen, dass es das war, was es war.
Ich schrie nicht. Ich konnte nicht. Ich stand einfach da und starrte auf das Bett. Nach langer Zeit hörte ich wieder das Heulen. In weiter Ferne.
Ich musste zurück zum Institut. Ich musste jemanden benachrichtigen. Ich spürte keine Angst; ich war wie betäubt. Ich rannte zum Wagen und fuhr zurück. In der Lobby rüttelte ich den Wachmann auf. In diesem Augenblick wurde ich hysterisch. Ich brüllte ihn an, ohne einen zusammenhängenden Satz herauszubekommen.
»Schätze, ich rufe lieber La Loge«, sagte er schließlich und drückte auf ein paar Knöpfe. Dr. La Loge kam augenblicklich. Er war komplett angezogen, als hätte er mit dieser Situation gerechnet.
»Preston!«, brüllte ich. »Er wurde ermordet, entsetzlich zugerichtet … der Killer von Laramie …«
»Beruhigen Sie sich«, sagte La Loge. »Was ist denn passiert?«
Ich begann ihm alles zu erzählen.
»Ich glaube, Sie sind nur übererregt … Sie hatten einen Albtraum … möchten Sie ein Schlafmittel? Nembutal?
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