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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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frische Luft. Halten Sie sich an mir fest. Ich bringe Sie hier raus.«
    Speranza öffnete die Augen. Sie musste einen Moment lang das Bewusstsein verloren haben. Das Geräusch, das sie für Blätterrascheln im Wald gehalten hatte - war das Gemurmel der Menschen draußen vor der Tür.
    Sie klammerte sich an die Schulter des Jungen. Er war in den letzten Jahren sehr gewachsen, aber sein Gesicht hatte in ihr augenblicklich die Erinnerung an die Eisenbahnfahrt wachgerufen, an den fingierten Überfall, an die Flucht durch die Wildnis des Nebraska-Territoriums. Er schaute sie an und dann gleich wieder weg; aber sie verstand diesen kurzen Blick zu deuten: Wir beide müssen uns verbünden. Sie vermutete,
dass der Junge ahnte, weswegen sie Dr. Swanson aufgesucht hatte. Leere in ihr.
    Ihr wurde wieder schlecht. Sie dachte: Wenn ich nur in Ohnmacht fallen würde und damit Schluss, das wäre wenigstens damenhaft; dann würde ich woanders aufwachen, mit Ammoniak ins Leben zurückgerufen werden, und vielleicht würde ich mich dann nicht mehr so leer fühlen.
    »Madam … kommen Sie lieber mit nach draußen.«
    »Die Hinrichtung …«
    »Ich lasse Sie nicht hinschauen, Miss Speranza, das verspreche ich Ihnen.«
    Der Junge öffnete ihr die Tür. Die Menschen schoben und drängten sich, wurden gegen die Pferdepfosten gequetscht, rauften sich um die besten Plätze. Sieben Kinder hockten wie auf einer Perlenkette aufgezogen auf dem Dach vor Dr. Swansons Praxisschild. Es roch nach Alkohol und Pferdepisse. Auch Chinesen waren da, in ihren seltsamen Anzügen und mit den zu einem Zopf geflochtenen Haaren.
    »Ich hätte Sie nicht rausbringen sollen«, entschuldigte sich der Junge. »Hier draußen ist die Luft genauso mies wie drinnen.« Sie hielt sich an seinem Arm fest; er war ihr über den Kopf gewachsen, aber mager wie ein wildes Tier, und er verströmte den Geruch von feuchter Erde - den Geruch ihrer Albträume.
    Sie schloss die Augen und sah - »Johnny«, flüsterte sie. Denn die Zeit, die sie im Zimmer des Doktors verbracht hatte, wo ihr das Kind genommen worden war und sie im Rausch des Betäubungsmittels gedöst hatte, diese Zeit hatte sie zugleich im düsteren Forst ihrer Träume verbracht, und wieder einmal war sie dem gekreuzigten Johnny gegenübergestanden, und das Blut war aus seiner Seite geströmt und hatte den Bach gebildet, der den Wald durchzog.
    Plötzlich legte sich Stille über die Menschenmenge. Ich will nicht hinsehen, sagte sich Speranza. Ich kenne den Tod.

    Aber dann konnte sie nicht anders, und sie schaute in die glotzenden Gesichter und dachte: Sie sind wie die Werwölfe, verwandeln sich in Bestien, sobald der Tod naht. Sie sah die ausdruckslose Miene der Frau, der das Seil um den Hals gelegt wurde. Ein Knacksen, dann jubelte die Menge auf. Und sie begann leise zu weinen, bis die Tränen das Bild der Chinesin verschwimmen ließen und sie nur noch eine zuckende Silhouette über dem Staub ausmachen konnte.
    »Weinen Sie nicht, Madam«, tröstete sie der Junge leise. »Es ist doch bloß eine Chinesin.«
    »Du solltest das nicht sagen«, antwortete Speranza. »Denn ausgerechnet du müsstest wissen, dass ich an ihrer Stelle hängen sollte, dass ich mit einem Wolf zusammen -«
    »Seien Sie doch ruhig!«, fiel ihr Teddy Grumiaux ins Wort. Aber sie hatte Glück. Im allgemeinen Jubel hatte sie niemand gehört.
    »Manchmal denke ich an nichts anderes als an Johnny. Ich glaube, ich habe ihn betrogen … ich habe den Weg des geringsten Widerstands gewählt.«
    »Schätze, er ist tot«, meinte Teddy.
    Aber sie wusste, dass das nicht stimmte, und sie wusste, dass er ihre Gewissheit spürte. Es war gut, dass die Menschen um sie herum lachten und grölten und sich amüsierten. Denn das Gefühl zwischen ihnen beiden war so mächtig, dass es nur in einer großen Menge, in der Anonymität zu ertragen war.
    Er führte sie in eine Seitenstraße, an einer farbenfrohen Fassade vorbei, hinter der sich, wie Speranza wusste, ein Haus von schlechtem Ruf befand. Der Junge schaute sich um, als befürchtete er, entdeckt zu werden, und ihr wurde klar, dass auch er Geheimnisse hatte und Ängste, die er ihretwegen ignorierte.
    »Ich wohne im Imperial Hotel«, erklärte sie ihm. »Und ich fahre morgen früh zurück. Bitte mach dir keine Umstände.«
    Aber er bestand darauf, sie dorthin zu begleiten. Zum Glück
war der Diener noch nicht zurückgekehrt; vielleicht hatte er ebenfalls der Hinrichtung zugesehen. Im Foyer wollte sie sich bei dem Jungen

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