Wolfsruf
bedanken; aber er hatte sich schon wieder umgedreht.
»Ich hoffe, dass wir uns irgendwann wiedersehen«, sagte sie. Doch er war schon verschwunden.
3
Das Dorf der Shungmanitu
Vollmond
Der Mond ging über den nebelverhangenen Bergen auf. Der Wind war abgeflaut, das Feuer niedergebrannt; die Hunde lagen dicht beieinander in der Wärme. In den Tipis warteten alle auf die Wandlung, auf die Zeit, wenn die Kinder der Wichasha Shungmanitu zu vierbeinigen Wesen wurden.
Im Wald im Geist des Jungen schien ebenfalls der Mond, blutrot über der Lichtung. Johnny Kindred, der Verbannte, lugte aus seinem Versteck, einem Baumhaus, das er und James und Jake als Zuflucht vor Jonas Kay zusammengezimmert hatten. Jonas Kay war in rötliches Licht gebadet, trabte durch den Wald, heulte, scharrte im Dreck, markierte jeden Busch, Stein, Ast mit seiner Pisse - Jonas wandelte sich.
»Wir können hier nicht ewig drin bleiben«, erklärte Jake Killingsworth. »Ich bin nicht immer da, kann nicht immer für dich sprechen.«
Johnny kauerte in einer Ecke. Der Mond schien durch die Ritzen und Spalten in den Wänden. Jakes Gesicht war rot gestreift im Mondlicht. Jake war eines Tages aus dem Nichts aufgetaucht, hatte Johnny bei der Hand genommen und ihm das Baumhaus gezeigt, das er sich gerade baute.
Er hörte weit entfernt die Stimme Ishnazuyais, der leise zu
ihm sprach. Er konnte ihn nicht sehen, denn Jonas der auf der Lichtung herumraste, blockierte jede Verbindung nach draußen. Er verstand die Indianersprache sowieso nicht. Er hatte sie am ersten Tag nach seiner Gefangennahme ausprobiert; aber seit ihrer Ankunft im Wolfslager hatte er geschwiegen - zwei Jahre lang. Und sich geweigert, die Wolfsmenschen zu verstehen.
Aber jemand anderer im Baumhaus lauschte. Er konnte ihn noch nicht sehen. Manchmal erhaschte er einen winzigen Blick, entdeckte er eine Feder, einen Tupfen Kriegsbemalung oder weite, braune Augen. Johnny wusste, dass irgend jemand in ihm mit den Indianern sprach, denn er wusste, dass sein Körper mit ihnen kommunizierte, schon seit vielen Monaten. Aber diese Person hatte sich ihm noch nicht offenbart.
Johnny wartete. Draußen heulte Jonas Kay im Mondlicht.
Ishnazuyai saß bei dem Jungen, wie jedes Mal, wenn der Mond voll wurde. Die anderen Dorfbewohner waren schon hinaus in die Nacht gelaufen. Er dagegen hatte den Zelteingang zugeklappt und saß mit dem Kind in der schattigsten Ecke auf dem Büffelfell, wo sie das Licht, das durch die Öffnung im Dach drang, nicht erreichte. Er wollte nicht, dass der Junge sich wandelte, bevor er mit ihm gesprochen hatte.
»Höre«, sagte er zu dem Jungen. »Es ist Zeit für den Wandel, deshalb will ich dir wieder erzählen, wie das Große Geheimnis das Volk der Wölfe schuf …« Und er sprach, wie es seine Mutter so oft getan hatte, von den Wichasha Shungmanitu und Wakantanka und von dem Vertrag, den sie geschlossen hatten, als die Welt noch jung war.
Wie viel davon verstand der Junge? Manchmal wandelte er sich überhaupt nicht, wenn der Mond voll war, sondern blieb reglos am Feuer sitzen, lutschte am Daumen und schien in eine Leere zu starren, die viel zu groß war für ein so kleines Kind. Er wusste, dass der Junge die Menschensprache verstand; ging
er nicht Holz holen, kümmerte er sich nicht ums Feuer, aß er nicht, wenn man es ihm sagte? Aber er sprach immer nur das kalte Kauderwelsch der Washichun, eine Sprache, die nicht wie der Wind und der Bach klang, sondern wie die Eisenmaschinen, die durch das Land donnerten, wo einst die Büffel zu Tausenden weideten. Die paar zaghaften Worte, die er am ersten Tag gesprochen hatte, als Ishnazuyai ihn auf dem Rücken trug, kamen nicht wieder.
Little Elk Woman, deren Leben der Junge gerettet hatte, lag schlafend neben ihm unter einer Büffeldecke, an der sie monatelang gearbeitet hatte und die mit einem komplizierten Muster blauer und weißer Washichun- Perlen verziert war; die Perlen waren aus einem Ort gekommen, der Prag hieß. Ishnazuyai hatte sie zur Frau genommen, wie es sich gehörte, denn sie hatte keinen Ehemann, der für sie jagte, und der Junge hatte sie zur Mutter gewählt. Aber die Frau sprach ebenfalls kaum.
Die Nächte, in denen der Junge sich wandelte, fürchtete er noch mehr als die anderen. Dann stand eine obszöne Wut in den Augen des Knaben. Er war wie ein Krieger, der sich an den Pfahl hatte binden lassen, sodass er bis zum Tode kämpfen muss, ein entehrter Krieger, dessen Stolz nur im Tod wiederhergestellt
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