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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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werden kann.
    »Ich kann nicht mehr mit den anderen gehen«, sagte Ishanzuyai. »Sie werden durch den Wald streifen. Sie werden den Tanz des Jägers und der Beute tanzen. Und manchmal, wenn ein Lakota seinem Volk zur Last wird oder den Wunsch zu leben verloren hat, ruft er den Wolfsgeist, der ihn ins Land der vielen Tipis bringen soll; dann kommt einer von uns, um ihn zu holen. Es ist die heiligste Tat, die einer aus unserem Stamm vollbringen kann.« Verstand der Junge ihn? Ishnazuyai wusste, dass er nicht wie die anderen Wolfsmenschen aus dem Land der Weißen war, die zwar die Gestalt von Tieren annehmen konnten, aber immer noch die Herzen von Weißen besaßen und nur um des Tötens willen töteten.

    Ein anderer Geist hauste in dem Jungen; deshalb hatte ihn Ishnazuyai mit zu seinem Volk genommen. Er hatte den Knaben in einer Vision gesehen, wo er Mensch und Tier und rote Menschen und Washichun vereinte. Aber die Vision war schon lange vorbei, und das Kind sprach immer noch nur in der Sprache des weißen Mannes - laut und mit viel Luft. Vielleicht, dachte Ishnazuyai, habe ich mit geirrt.
    Von draußen war entferntes Heulen zu hören.
     
    Aus dem Schatten hörte er Indianersprache. Johnny verstand die Worte nicht, aber Jake übersetzte sie ihm. »Er sagt, er ist der wahre Wolfsjunge. Er sagt, Jonas Kay ist nur ein Schatten. Er sagt, dass er auf die Lichtung gehen tut.«
    »Wer ist er? Warum spricht er nicht Englisch?«
    »Weil er kein Engländer ist, darum. Er ist nie aus diesen Hügeln rausgekommen.«
    »Was macht er in mir?«
    »Er ist neu«, erklärte Jake. »Wie ich.«
    Johnny hörte die Bewegungen des neuen Jungen; sie klangen wie das Rascheln von Laub im Wald. Und seine Stimme war nie lauter als ein Flüstern, und er sprach kein Wort Englisch.
    »Er sagt, wir sollen ihm folgen«, meinte Jake.
    Am Eingang des Baumhauses sah Johnny den Indianerjungen auf den Boden springen, ein dunkler Fleck gegen das Laub, das im Mondlicht rötlich schimmerte. Es war nur ein winziger Augenblick, aber Johnny konnte erkennen, dass er anders aussah als die anderen im Wald. Jetzt huschte er durch die Bäume, blieb stehen, lief los, tauchte auf, wieder unter. »Los«, meinte Jake, »jetzt geht’s auf die Lichtung.«
    »Ich habe Angst«, bekannte Johnny.
    » Los! Begreifst du nicht, was das bedeutet, du hirnloser Kerl? Vielleicht können wir geheilt werden!«
    »Geheilt!«
    Mondlicht brach durch das Walddach, tüpfelte das tote Laub
am Boden, der Nebel wogte. Er konnte fast die Lichtung sehen. Und er konnte Jonas heulen hören. »Ich fürchte mich, Jake«, sagte er zu seinem neuen Freund. Aber Jake nahm ihn einfach bei der Hand und zog ihn herunter. Er bekam Panik, weil er dachte, die Erde würde ihn verschlingen, aber er landete weich auf dem feuchten Boden. Er wischte sich den Dreck von der Hose und schaute dann auf. Die Lichtung lag vor ihnen. »Wo ist der Indianer hin?«, fragte er.
    »Siehst du seine Fußabdrücke nicht?«
    Nichts. Mondlicht beschien die Stelle, auf die Jake deutete: hier ein geknickter Zweig, dort ein umgedrehtes Blatt. »Das sind keine Fußabdrücke«, beschwerte sich Johnny.
    »Wenn ein Indianer läuft«, beschied ihm Jake, »verneigt sich der Wald vor ihm.« Johnny fragte sich, wie lange Jake und der Indianer schon zusammen im Wald waren und darauf gewartet hatten, die anderen im Kopf kennenzulernen. Er folgte Jake - durch dichtes Unterholz und über Schleichwege, die er noch nie gesehen hatte, bis sie plötzlich auf der Lichtung standen -
    Und er sah zwei Wölfe, die einander anfunkelten, maßen, beschnupperten: den Wolf, der Jonas Kay war, hager, mit schmalen Augen und silbernem Fell, und einen zweiten Wolf, schlank und dunkel wie der Wald selbst.
     
    Und der Junge öffnete die Augen und sprach in der Menschensprache zu Ishnazuyai, und seine ersten Worte waren: »Até, até«
     
    »Er jagt den Jonas-Wolf!«, sagte Johnny. Die beiden Wölfe hetzten über die Lichtung, grollten, versuchten, einander zu markieren. Jonas brüllte, er knurrte, er scharrte Dreckbatzen auf, er peitschte mit dem Schweif die Erde; aber der andere Wolf war kleiner und behände und umtanzte ihn wie die Nacht selbst.

    Der Junge zuckte, Schaum stand ihm vor dem Mund, und als Ishnazuyai ihn berührte, wurde er steif wie ein Toter. Vielleicht ist es der Wahnsinn, dachte Ishnazuyai, die Angst vor dem Wasser; aber als er seine Lippen mit einem Löffel aus Büffelknochen voll frischem Quellwasser benetzte, wehrte sich der Junge nicht.

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