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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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duldete keinen Widerspruch, und so verriet ihm der Portier die Zimmernummer.
     
    Es klopfte ans Fenster.
    Sie schaute auf und sah nichts. Sie hatte ihr Koka-Pulver noch nicht eingenommen; wenn es wirkte, drohten oft überall Gefahren: unter dem Bett, im Schrank, geheime Pläne, sie zu vernichten. Ganz bestimmt ist es nur der Wind, dachte sie. Aber es klopfte noch einmal, und in der Ferne hörte sie Pferde wiehern.
    Sie hatte in der Bibel gelesen. Sie schaute auf und sah zu ihrer Verblüffung Teddy Grumiaux, der sie vom Sims her anstarrte; er sah so verzweifelt aus, dass sie sofort aufstand und ihn hereinließ. Sein Kragen war aufgeknöpft, seine Hose stand offen, und seine Augen waren weit aufgerissen, als hätte er etwas
Entsetzliches gesehen, worüber er nicht einmal nachzudenken wagte. Es tat ihr augenblicklich leid, dass sie das Fenster geöffnet hatte, denn der Gestank draußen war unerträglich. Schnell schloss sie es wieder und zog die Vorhänge zu, da sie ahnte, dass er nicht gesehen werden wollte. »Ich hab Claggart gesehen«, keuchte Teddy. »Er hat wen umgebracht … glaube ich.«
    Speranza erinnerte sich nur allzu gut an den unangenehmen Spieler. »Ruhig, Teddy«, beschwichtigte sie ihn, »du musst dich beruhigen. Hier bist du sicher.«
    »Aber Sie sind nicht sicher, Miss Speranza! Ihr Graf ist auf dem Weg zu Ihnen …«
    »Er kann gar nicht kommen, Teddy. Es ist …«
    »Vollmond. Ich weiß.«
    Er saß jetzt auf der Bettkante, ganz im Schatten. Bis jetzt hatte er verängstigt gewirkt, aber nun schien er völlig zusammenzubrechen, und Speranza hörte ihn schluchzen wie ein Kind; ihr Herz flog ihm zu, und ihr wurde klar, dass er, obwohl er mit einer Waffe in der Hand in ihr Schlafzimmer gesprungen war, doch immer noch ein Kind war. Er ist ja gerade erst im Stimmbruch, dachte sie.
    Sie schob alle moralischen Skrupel beiseite und nahm ihn in ihre Arme. Das war sie ihm wenigstens schuldig; hatte er sie nicht im Haus des Doktors beschützt, ohne auch nur zu fragen, an welchem Übel sie litt?
    Schließlich brachte er heraus: »Claggart ist auch hinter Johnny her.«
    »Johnny?«, fragte Speranza, die Johnny so oft im Geist hatte sterben sehen, die unzählige Albträume durchgestanden hatte, in denen er in jenem düsteren Forst gekreuzigt über dem blutigen Fluss hing. »Johnny ist von uns gegangen, der Arme! Ich fürchte, er weilt nicht mehr auf dieser Welt.« Sie sagte das ohne innere Überzeugung.
    »Ich weiß, dass er noch lebt«, widersprach Teddy. »Und ich
glaube, Claggart will ihm was antun. Er ist ganz versessen darauf, ihn zu kriegen.«
    Sie hatte immer gewusst, dass er noch lebte, das begriff sie jetzt. Woher wussten die Wolfsmenschen so viele Dinge? Sie spürten sie in ihrem Herzen. So konnte auch sie Johnny in ihrem Herzen spüren … durch ihr gemeinsames Mensch-Sein.
    »Ich glaube, er braucht uns«, meinte Teddy.
    Schritte draußen. Pochen an der Tür. »Gräfin …« Sie zuckte zusammen, als sie die Anrede hörte, die ihr nicht gebührte.
    »Ich hab Ihnen gesagt, dass der Graf kommt«, sagte Teddy.
    »Es ist sein Bote. Schnell, versteck dich …« Sie suchte nach einem geeigneten Versteck, aber der Junge lag schon unter dem Bett.
    Die Tür wurde ohne weitere Anstalten geöffnet, und der Tiergeruch, ständiger Begleiter ihrer Nächte, drang in den Raum ein. Die beiden Lakaien setzten die Sänfte ab - die fast wie ein abgedeckter Vogelbauer wirkte - und schlossen die Fensterläden. Sie hatten Ballen schweren schwarzen Tuches bei sich, das sie über die Vorhangstangen warfen.
    Die Luft vibrierte. Sie hörte den schweren Atem des Grafen. »Wie konntest du hierherkommen?«, rief sie aus. »Man könnte dich entdecken, du könntest alles ruinieren, wofür du gearbeitet hast …«
    »Du tötest meine Kinder!« Es wurde heller, denn der Bote hatte eine Kerosinlampe entzündet und sie neben das Bett gestellt. Der flackernde Schein strich über die Vorhänge ihres Himmelbettes.
    »Deine Kinder …« Ihr fiel keine Erwiderung darauf ein. Scham peinigte sie.
    »Meine Kinder … und deine … die Saat des zukünftigen Volkes der Wolfsmenschen … o Speranza, weißt du nicht, wie weh du mir tust?«
    Grobe Hände auf ihren Armen. »Gräfin«, sagte der Bote leise, »wir sind gekommen, um Sie heimzuholen. Und um Sie
von nun an zu bewachen. Neun Monate oder länger, wenn es sein muss.«
    »Lasst sie! Ich will sie! Jetzt!« Ein bisschen menschlicher jetzt, das Knurren. Er kontrollierte die Verwandlung so weit wie

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