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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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kam, entweder um stundenlang reglos hier zu stehen oder um neue Kerzen anzuzünden.
    »Vielleicht«, sagte der Graf - seine Stimme war deutlich heiserer geworden, seit sie das Haus verlassen hatten - »kann man die Kirche auch anders nutzen … als Bibliothek zum Beispiel, oder vielleicht …«, ein schwaches Lächeln, als würde er sich an einen längst vergessenen Scherz erinnern, »als Irrenhaus.«
    »Sie wollten zum Friedhof«, sagte Vishnevsky, denn die Atmosphäre hier war so bedrückend, dass er frische Luft brauchte, selbst wenn sie dazu auf einen Friedhof mussten; im Gegensatz zu den Wölfen konnte er den Verwesungsgeruch der Begrabenen nicht wahrnehmen, für ihn war es ein duftender Garten. Natalia hatte dort Rosen gepflanzt, die an den Landsitz in der Wallachei erinnern sollten, wo sie und der Graf sich manchmal im Vollmond in einem ummauerten Garten zwischen wilden, dornigen Rosen vergnügt hatten.
    Die Sonne brannte, als die Lakaien die Bahre des Grafen neben dem Grab von Dr. Szymanowski absetzten.
    Der Graf sagte: »Ich weiß, dass Sie über die Nachfolge nachdenken.« Vishnevsky erstarrte. »Über Natalia.«
    Vishnevsky wartete.
    »Es gibt ein Testament …«
    Während Vishnevsky zusah, begann sich das geschundene
Gesicht des Grafen zu transformieren. Silberweiße Borsten schoben sich zwischen seinen Brauen durch die Haut. Blut strömte über sein Gesicht, durchtränkte den Kragen seines Nachthemdes. Eine Wange schien fast zu tanzen, als neue Muskeln an die Stelle der alten traten. Im hellen Sonnenschein wirkte die Metamorphose seltsam unpassend, fast lächerlich. Der tierische Gestank mischte sich mit dem Duft der Rosen. Vishnevsky musste schlucken; es wäre höchst peinlich, wenn er sich ausgerechnet jetzt übergeben müsste, wo sein Herr sich wandelte -
    »Wahrscheinlich komme ich Ihnen lächerlich vor … mich am helllichten Tage zu verwandeln … Jetzt wissen Sie, dass ich todkrank bin …«
    »Nein, mein Herr.«
    »Sterbe.«
    Er packte Vishnevsky am Arm und ließ nicht mehr los. Blut befleckte die Manschette.
    »Die Finanzen der Stadt …« Aus den Augen flossen eitrige Tränen. Vishnevsky musste den Blick abwenden; er schaute zur Seite und fixierte die Holztafel, auf der in flachen eingekerbten Buchstaben Tomasz Szymanowski stand, kaum leserlich nach zwei Wintern.
    Wenn sie nur wieder in Wien wären, dachte er. In einer Loge in der Staatsoper - er liebte die rauen Fanfaren moderner Opern -, die Stadthäuser von Gaslichtern erhellt, die durch den Nebel strahlten - »Ihnen gefällt es … hier nicht …«, flüsterte der Graf. Konnte er denn nichts vor seinem Herrn verbergen?
    »Nein«, gestand Vishnevsky.
    »Ich glaubte nicht, dass ich … hier so sinnlos sterben würde, ohne … die Saat einzupflanzen. Sie verstehen? Glauben Sie nicht, ich würde die Pläne Ihrer Cousine nicht kennen. Ich bin der Leitwolf, aber jeder weiß, dass auch eine Wölfin führt, auf ihre Weise … denn sie muss die Höhle suchen und den Wurf austragen. Und wir haben keinen Wurf.«

    »Nein, Graf.«
    »Es gibt ein Testament … es liegt in Szymanowskis Sarg … in der Brusttasche seines Jacketts … nur Sie wissen davon … wenn ich gegangen bin.«
    Eine Schnauze begann sich durch die Wange des Grafen zu bohren. Ein Knochen stach heraus, wo sich ein Lappen menschlicher Haut von seiner Schulter gelöst hatte. Ein Auge war bereits umwölkt. Die Hand auf Vishnevskys Arm war dunkel verfärbt; es war das Silber, das ihn durchtränkte, vergiftete.
    »Sie haben Schmerzen, Graf«, sagte Vishnevsky. »Ich werde Ihnen Wein bringen … Glühwein … oder etwas Morphium.«
    »Ja. Schmerzen.« Und dennoch lächelte er. »Kein Wein, ich will mit klarem Kopf sterben. Schicken Sie einen Lakaien in den Wald; er soll mir ein Glas kaltes, klares Wasser aus dem Bach schöpfen.«

10
    Black Hills
    Am selben Tag
     
    In dieser Nacht hatte Speranza in Ishnazuyais Tipi geschlafen, aber Teddy und Scott blieben draußen am Lagerfeuer. »Ich muss einen Kreis um ihn ziehen«, hatte ihr Teddy erklärt, als sie die Zeltluke öffnete und in die Nacht hinausschaute. »Damit.« Und er begann, Morgan-Dollars und alte Achter aus seiner Hosentasche zu leeren. »Morgen Nacht ist es so weit. Ich zähl’ mit.«
    »Aber werden nicht alle im Dorf …?«, fragte Speranza. Sie wunderte sich darüber, dass sie keine Angst spürte.
    »Sie werden uns nichts tun. Die Shungmanitu Tanka jagen keine Menschen, solange die nicht zu sterben wünschen … «
    Die Nacht war

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