Wolfsruf
die Wölfe zum Felsen und lass sie tanzen … vielleicht können wir die Welt zurückführen in die alte Zeit.«
»Vielleicht?«
»Ich spreche nur, wie ein Adler spricht. Ich bin nicht Wakantanka, das Große Geheimnis. Obwohl ich hoch über der Erde fliege, sehe ich nicht alles.«
»Vielleicht werde ich getötet …«
»Nein, Wolfsjunge. Wer dich tötet, muss dich wirklich lieben, und du bist nicht leicht zu lieben. Du bist dunkler als die Dunkelheit.«
Und der Wolfsjunge erinnerte sich an sein Leben unter den Washichun, an die entsetzliche Angst vor der Dunkelheit, die von den Weißen Satan genannt wurde; und die Angst berührte ihn in seinem Traum -
»Hab keine Angst!«, rief der Adler. »Wenn du dich fürchtest, wirst du den Weg durch deinen Traum verlieren …«
Zu spät! Er war nicht mehr substanzlos. Er fühlte das tote Fleisch sein ätherisches Wesen durchdringen, während er hinabstürzte. Er schnappte nach Luft. Der Wind schleuderte ihn gegen einen harten Felsen, Schmerz jagte durch seinen Körper. Er stand jetzt im Kreis, neben seinem bewusstlosen Körper.
Er machte sich bereit, den Körper durch den Mund und die
Nase zu betreten, um ihn mit dem Wind des Lebens wiederzuerwecken. Er schwebte abwartend über seinem Gesicht; er hatte Angst davor, die Führung vorschnell zu übernehmen, denn ein Körper konnte auch von seiner eigenen Seele zu Tode erschreckt werden.
Der Körper kniete. Seine Augen waren geschlossen. Die Haut war ausgedörrt, er roch den Schweiß, den ranzig-süßen Geruch des Hungers. Schatten lagen unter seinen Augen, und auf seiner Stirn waren Falten. Kein Wind wehte innerhalb des Kreises, kein Laut war zu hören. Die Zeit selbst stand still, denn diese kleine Welt gehörte nicht zum Universum.
Wolfsjunge wollte gerade in den Körper gleiten, als -
Sich die Augen öffneten! Und ihn anstarrten, glühend wie Bernstein! Der Mund weitete sich zu einem hämischen Grinsen, die Zähne glänzten, die Zunge verzerrte sich zu den groben, unmenschlichen Lauten der Washichun -Sprache.
Dann kam eine andere, weichere Stimme: »Es ist Jonas, Shungmanitu Hokshila! Er sagt, du hättest den Körper nie verlassen dürfen … er sagt, es ist jetzt sein Körper, und er wird dich niemals wieder hineinlassen …«
Der Körper knurrte. Hände verkrampften sich zu Tierklauen. Sie konnten sich noch nicht wandeln, nicht bevor morgen der Mond aufging. Wolfsjunge sah die Kiefermuskeln arbeiten, Speichel fließen, Augen rollen. Der Körper wehrte sich, denn die anderen versuchten, den dunklen Wolf drinnen zurückzuhalten. Wolfsjunge nutzte den Augenblick, um in den Körper zu schlüpfen und sich dem anderen zu stellen. Er fand sich im Wald wieder. Hinter der Lichtung brannte das Baumhaus, und er sah nun auch Jonas Kay, dessen Kiefer mahlten und der eine brennende Fackel in der Hand schwenkte.
»Nein, Jonas! Weißt du nicht, dass wir alle sterben müssen, wenn du …«
Der dunkle Wolf war keinen Argumenten mehr zugänglich. Er brüllte, er heulte, er tobte durch den Wald, wirbelte Laub
auf, setzte tote Bäume in Brand. Der Pfad war voller verkohlter Planken aus dem Baumhaus.
Wer hatte den Körper übernommen? Niemand! Wolfsjunge übernahm, schaute aus den Augen des Körpers, wischte den roten Schleier des Zornes beiseite, um auf den Mond zu blicken -
Der Adler kreuzte am Himmel, rief seinen Namen!
»Vater!«, rief Wolfsjunge.
Hinter sich hörte er einen rauen Schrei und Jakes Stimme: »Er sagt, wir haben keinen Vater außer der Dunkelheit … er sagt, wir müssen alle Hoffnung aufgeben.«
Der Adler taumelte. Wolfsjunge verstand seinen Ruf nicht. Hatte er die Kraft zu träumen verloren?
Ich muss das Feuer löschen, sagte sich Wolfsjunge. Und wieder träumen.
9
Winter Eyes
Vollmond
Draußen brannte die Sonne, obwohl es noch Morgen war. Selbst das Zimmer des Grafen von Bächl-Wölfling war in tiefes Bernsteingelb getaucht, obwohl vor allen Fenstern schwarze Vorhänge zugezogen waren. Das Fieber hatte nachgelassen. Er war schweißgebadet, und die Pelzflecken stanken nach Tierschweiß und nach lange nicht gewechselten Umschlägen.
Er rief. Lange kam niemand: Die Diener waren alle verschwunden, nur Vishnevsky war unten, saß hinter einem breiten Schreibtisch, auf dem sich Eisenbahnaktien, Anteilsscheine und Bankauszüge stapelten; er versuchte, die Geschäfte des Grafen zu ordnen, denn alle wussten, dass das Ende nahe war.
Vishnevsky zog die Vorhänge des riesigen Erkerfensters zurück, durch das
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