Wolfsruf
man auf die Straße blicken konnte. Draußen ging es bereits drunter und drüber, dabei waren es noch zehn Stunden bis Mondaufgang! Baronin von Dittersdorf bewirtete einige der Neuzugänge in Winter Eyes: Edgecomb, ein schwarzer Kuhhirte, der sich ein bisschen zu weit von seiner Herde entfernt hatte; Josh Levy, ein Pfandleiher aus Pierre; Victor Castellanos, ein Ex-Comanchero, der vor dem Gesetz ins Territorium geflohen war und sich plötzlich als Werwolf wiederfand. Die drei waren von der Baronin persönlich »akquiriert« worden - ihre Auswahl der Opfer war ebenso eigenwillig wie ihre Spieltechnik.
Hinter ihnen bereiteten ein paar Lakaien die dunklen Concord-Kutschen vor, mit denen sich die Wölfe an einen ergiebigen Futterplatz fahren ließen. Der Haushofmeister des Grafen überprüfte die dicken schwarzen Samtvorhänge auf eventuelle Risse; ein einziger Mondstrahl konnte vier Wochen sorgfältiger Planung zunichtemachen.
Idioten, dachte Vishnevsky und wandte sich wieder dem Vermögen des Grafen zu. Er hatte sich kaum wieder gesetzt und seine Pfeife mit dem hier erhältlichen Orcico-Tabak gestopft, da hörte er ein Stöhnen von oben: »Valentin Nikolaievich!«
Er legte die Pfeife ab und stieg die Treppe hinauf. Auf dem Absatz blieb er kurz stehen, um ein Tablett aufzunehmen, das die Diener hier abgestellt hatten. Darauf standen eine Weinkaraffe und verschiedene Flaschen nutzloser Heilmittel: Foley’s gegen Gallenkoliken und Verstopfung, Wisconsin-Dyspepsie-Tabletten, Harford’s Myrrhebalsam, ein kleines, noch versiegeltes Fläschchen mit Cordwainer Claggarts Floccinaucinihilipilificator - seltsam, wie dieser grässliche Mensch wieder bei ihnen aufgetaucht war, als vollkommen unpassender Trabant dieses steifen, störrischen Major Sanderson - ah, es war doch etwas Brauchbares dabei - eine kleine Flasche Laudanum und ein alter Platinlöffel mit dem Wappen der von Bächl-Wölflings.
Seufzend öffnete Vishnevsky die quietschende Tür, deren Angeln lange nicht mehr geölt worden waren.
Und er sah seinen Herrn. Im Zimmer hing Verwesungsgeruch. Der Graf schaute unter einem Haufen von Decken, Daunenbetten und urinfleckigen Laken hervor.
»Euer Gnaden«, sagte er leise.
»Dumnezeu, dumnezeu«, sagte der Graf kaum hörbar. Überrascht registrierte Vishnevsky, dass er zu Gott flehte - und auch noch in Wallachisch, einer Sprache, die Vishnevsky seinen Herrn nur mit den Bauern seines Landsitzes sprechen gehört hatte. »Doamne ajută!«, flüsterte der Graf im Fieberwahn. »Ceamfăcut? … l-au crezut pe băjatul ăla …« Sein Blick schweifte von einer Seite zur anderen, wie der eines Wolfes auf Beutezug. Plötzlich bemerkte er Vishnevsky, der immer noch in der Tür stand. Augenblicklich versteifte er sich und wechselte ins Hochdeutsche, wie es sein Status verlangte. »Ich sehe, dass Sie persönlich gekommen sind. Valentin Nikolaievich«, empfing er ihn und verzog seine Lippen zu einer leeren Imitation seines einst hoheitlichen Lächelns. »Bitte verschonen Sie mich mit dem Laudanum; keine Kompressen, keine Senfpflaster mehr … man soll mich auf den Friedhof tragen … schauen Sie nicht so erschrocken, Vishnevsky! … Wo ist Ihre Cousine?«
»Sie ist auf die Jagd gegangen, mein Herr, mit Major Sanderson.«
»Ein … seltsames Paar … sie ist so … vornehm, und er …« Vishnevsky wand sich. Der Graf sah ihn eindringlich an, und er senkte den Blick; selbst in diesem Zustand strahlte von Bächl-Wölfling noch Autorität aus. Vishnevsky trat ans Fenster und brüllte einem Lakaien einen Befehl zu; dann kniete er sich neben dem Bett nieder und wischte den Eiter und das verhärtete Erbrochene vom Nachthemd des Grafen. Aber er dachte nicht an den Grafen, sondern an seinen Nachfolger; um jeden Preis mussten Natalias Interessen gewahrt bleiben.
Gegen Mittag hatten die Diener eine Bahre zusammengezimmert und ihren Herrn in die Kirche getragen. Natalias Kirche, dachte Vishnevsky, für Pater Alexandros gebaut, damit ihnen auch in der Wildnis die Segnungen der Kirche gewährt würden. Draußen, auf dem Platz, stand die Madonna, die ein anderes Gesicht hatte, aber die Kirche gehörte Natalia.
Vishnevsky kniete kurz nieder, als sie eintraten. Weihrauch - Kerzen - Ikonen auf dunklem Holz, immer wieder lackiert, bis die Gemälde kaum noch zu erkennen waren - hier war die Hitze lähmend, die Luft stickig. Seit Pater Alexandras’ Tod waren keine Gottesdienste mehr abgehalten worden, und Natalia war die Einzige, die regelmäßig
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