Wolfsruf
überraschend angenehm verlaufen. Zum ersten
Mal seit ihrer Bekanntschaft mit dem Lykanthropenverein hatte sie keine Albträume; sie träumte überhaupt nicht. Der Geruch im Tipi war anfangs unangenehm gewesen - der dumpfe Gestank der Büffelfelle, das scharf-ranzige Hirschfett -, aber die Büffeldecke, in der sie schlief, war weich und warm, und das Essen war sättigend gewesen.
Sie erfuhr, dass es gekochter Hund gewesen war, aber sie verspürte nur kurz Ekel; während der Jahre in Lord Slatterthwaites Diensten hatte sie lernen müssen, nicht wählerisch zu sein.
Im Morgengrauen gingen die Frauen an den Bach hinunter, um sich zu waschen und Wasser zu holen. Little Elk Woman bedeutete ihr mitzukommen. Sie planschten im Wasser, durch die hohen Bäume von den Blicken der Männer abgeschirmt. Obwohl sie nackt waren, erkannte Speranza, dass diese Indianerfrauen eine natürliche Bescheidenheit besaßen, um die sie manch fein gekleidete, parfümierte Dame von Rang beneiden würde. Danach zeigte ihr Little Elk Woman die Stelle, wo die Frauen Büffelfelle gerbten, die Felle mit dem Hirn des Tieres einrieben und mit knöchernen und steinernen Instrumenten bearbeiteten; und wieder erkannte Speranza, dass dieses Volk fleißig war und schwer arbeitete - wie die amerikanischen Protestanten - und nichts mit jenem Bild hedonistischer Wilder gemein hatte, das sie sich früher gemacht hatte. Und es war ein anmutiges Volk; wie plump fühlte sie sich, als sie in ihrem Tipi das Fischbeinkorsett anlegte und tief einatmen musste, um sich in das fein gewebte Spitzenhemd zu quetschen, das auf ihrer Odyssee bereits beträchtlichen Schaden genommen hatte.
Als sie wieder aus dem Tipi trat, war es bereits Vormittag; ein paar Dorfbewohner hatten sich um ein zeremonielles Schild aus Büffelleder versammelt, das ein alter Mann mit einem Knochenstift und gemahlenen Farbpigmenten verzierte. Scott Harper und Teddy Grumiaux waren bereits dort, und Little Elk Woman brachte ihnen in einem Eisenkanister - der von einem
Weißen stammen musste - Wasser aus dem Bach sowie eine Schüssel mit einem Brei, der aussah wie Haferbrei.
Als sie sich neben den Soldaten und den Jungen setzte, fiel ihr sofort auf, wie ähnlich Teddy seiner Mutter war. Der Junge hatte seine »zivilisierte« Kleidung vollkommen abgelegt; er trug einen Lendenschurz, eine Kette aus Tierwirbeln und Perlen, ein Paar sorgfältig gearbeiteter Mokassins, die ihm ein bisschen zu groß waren. Sein zuvor ungekämmtes Haar hatte er mit Tierfett geglättet und mit einer Adlerfeder geschmückt. Er schien sich in dieser Kleidung wohlzufühlen, und Speranza merkte, dass sein schlanker Körper hübsch, nein, schön war; er hatte sich vom Buben in einen edlen Wilden gewandelt.
»Was malt er da?«, fragte sie und deutete auf den Alten, der das Hirschfell verzierte.
»Es ist das Winterfell«, erklärte ihr der Junge. »Jede Zeichnung steht für das wichtigste Ereignis, das in einem Jahr passiert ist; so zählen die Indianer die Jahre.« Er deutete auf das Fell, und jetzt sah sie, dass eine Reihe von Zeichnungen, fast wie Votivtafeln, in einer Spirale darauf angeordnet waren; der Maler fügte sein Bild an das letzte in der Reihe an. »Sehen Sie das Bild an, mit dem blauen Rock und dem gelben Haar? Das war 1876, das Jahr der Schlacht am Fluss des Fetten Grases. Das gelbe Haar steht für General Custer, denn so nennen ihn die Indianer.«
»Und dieses Jahr?«, fragte Speranza und versuchte, das Werk des Alten durch die Gruppe neugieriger Kinder und Erwachsener, die sich um ihn versammelt hatte, zu sehen. Plötzlich ließ sich der Mann im Schneidersitz nieder und begann vor sich hin zu singen, wie es die Indianer so oft taten; und sie sah, dass er ein Baby gemalt hatte, das an den Zitzen einer Wölfin saugte - es erinnerte sie an die berühmte Statue von Romulus und Remus, den legendären Gründern Roms, die ausgesetzt und von einer Wölfin aufgezogen worden waren.
Teddy fragte seine Mutter etwas auf Lakota, und Little Elk Woman antwortete, indem sie sich an Speranza wandte: »Dieses Jahr ist Shungmanitu Hokshila gekommen, l’enfant loup, der weiße Wolf, der uns befreien wird.«
Endlich kamen sie auf Johnny zu sprechen. Und so fragte Speranza: »Ist der Junge nicht hier?«
»Oh«, antwortete Teddy, »ich habe mich bereits erkundigt. Er ist auf einer Traumwanderung; sie schätzen, dass er heute Nacht oder morgen zurückkommt, weil dann Vollmond ist. Aber sie sagen, wir können jetzt nicht zu ihm,
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