Wolfsruf
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In dem magischen Kreis wartete Wolfsjunge auf die Nacht.
Little Elk Woman führte ihren Sohn an den Rand des Lagers. Die Sonne ging unter. Die Hügel zeichneten sich noch schwärzer vor dem grauen Himmel mit den roten und orangenen und
violetten Streifen ab, die Bäume waren höher und abweisender, die Schatten länger.
»Ich dachte, du wärst tot«, sagte Teddy. »Warum hast du mich verlassen, Ma?« Und er fügte in gebrochenem Lakota hinzu: »Mein Vater ist tot. Alle deine Männer sind gestorben. Aber ich war noch da. Ich dachte, du wärst fortgegangen, um zu sterben. Das war ehrenvoll. Das konnte ich annehmen. Aber du bist zu einem anderen Mann gegangen, zu einem anderen Sohn.«
Sie konnte keine Antwort geben. Stattdessen sagte sie: »Du weißt, dass sie sich heute Nacht wandeln, nicht wahr?« Und sie sah Wut im Antlitz ihres Sohnes. Sie hatte Angst, denn sie wusste, dass die weißen Wölfe Claude-Achille getötet hatten und dass Teddys Rachedurst so groß war, dass er sich von den weißen und den roten Menschen abgewandt hatte.
»Ich hasse sie«, sagte Teddy leise.
»Sie sind nicht wie die, die du kanntest.«
»Ich weiß. Trotzdem hasse ich alle Wolfsmenschen. Sie haben mir meine Freunde, Pa und Zeke genommen, und sie nehmen Scott und Johnny … und sie haben dich genommen.« Obwohl er ihr nichts vorwarf, war sein Blick um so beredter.
Die Sonne war untergegangen. Sie hörten Heulen, in weiter Ferne, wie leise Liebesflöten. Das Gesicht ihres Sohnes verhärtete sich. Er zehrte von seiner Wut; er machte ihr Angst.
Auf Englisch sagte er: »Ich muss zu Scott. Wenn er die Wölfe riecht, geht es vielleicht mit ihm durch, und ich weiß nicht, was er dann tut. Ich glaube, er … mag Miss Speranza.«
»Ich werde dir helfen.« Little Elk Woman begriff, was der Freund dem Jungen bedeutete. Teddy brauchte etwas, woran er sich festhalten konnte, er musste seinen Freund vor der Dunkelheit retten, wenn der Mond voll wurde. Denn jedes Mal, wenn er seinen Freund rettete, siegte er von Neuem über die Dunkelheit in sich selbst.
- aus dem brennenden Wald -
Rauch schlängelte sich heran - Bäume in Flammen, krachten, stürzten um - der Boden schwankte, als Johnny rannte, Steine verbrannten seine nackten Füße -
Eine Hand, aus dem Rauch heraus, packte ihn. »Los, Johnny! Wir müssen zur Lichtung …«
»Jake! Was ist denn los?«
»Die Welt steht in Flammen, schätze ich.«
Johnny drehte sich um und sah das Baumhaus sterben. Es stöhnte, brach auseinander, stürzte herab, die Bretter donnerten gegen die Nachbarbäume. »Nein!«, schrie er. Dort war er in Sicherheit gewesen, der einzige Platz im Wald, an dem ihm Jonas nichts anhaben konnte. Rauch stieg ihm in die Augen. Und Jake zog ihn immer weiter, über herabgestürztes Geäst, über Spalten im Boden, aus denen Rauch stieg -
»Vorsichtig, Kleiner! Du wirst dir die Fußsohlen verbrennen.«
»Ich will das Baumhaus sehen … ich will Abschied nehmen …«
»Es gibt kein Zurück!«
Und er zog ihn über felsigen Boden, wo spitze Steine seine Sohlen aufschnitten. Und Johnny flüsterte immer und immer wieder Speranzas Namen wie ein Gebet. Denn zu wem hätte er sonst beten können.
»Wir sind gleich da …«, versprach Jake.
Es war nicht der übliche Weg zur Lichtung. Aber es gab tausend Wege im Wald, und Jake kannte sich besser aus als alle anderen.
»Wir gehen von der Lichtung fort …«, protestierte Johnny.
»Erst muss es schlechter werden, damit’s wieder besser werden kann«, sagte Jake und zerrte Johnny vom Weg weg.
»Aber der Weg …«, wehrte sich Johnny und versuchte, sich aus Jakes Griff zu befreien.
»Runter!« Jake schubste Johnny gegen einen knorrigen Baumstumpf. Johnny sah in einem winzigen Moment eine Feuerkugel
den Waldweg herunterschießen. Das Zischen schmerzte in seinen Ohren. Als er sich wieder umdrehte, lag der Weg in Asche, und ein paar schwarze Blätter segelten im Wind. »Ich sag’ dir doch, wir dürfen nicht mehr auf dem Pfad bleiben … und jetzt beweg deinen knochigen Hintern!«
Ein fernes Donnern - ein zweiter Flammenball - Johnny blieb nicht mehr stehen, er rannte an Jakes Seite, seine Füße rutschten durch den Schlamm. Das Feuer hatte diesen Teil des Waldes noch verschont, aber die Luft war rauchig - hier war er noch nie gewesen, hier drohte Gefahr. Er wusste nicht, welche. Er rannte noch schneller. Der Rauch folgte ihnen, schlang sich um ihn wie ein Tuch.
Gesichter im Qualm! Gesichter aus der Zeit vor -
»Nicht
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