Wolfsruf
ihrem Inneren.
Der Mond war noch nicht aufgegangen. Aber der Himmel war im Osten bereits hell, die Wolken trugen einen Perlmuttrand, reflektierten das milde Licht. Sie hatten den ganzen Tag das Lager ausspioniert; jetzt witterte Natalia etwas Neues, Unbekanntes in der Luft. Zweimal hatte der Major auf unbeholfene Art versucht, die in Aussicht gestellte Belohnung gleich
einzufordern; jedes Mal hatte sie ihm nur ein sprödes Lächeln, das sinnliche Beben ihres Körpers geschenkt.
»Die Indianer verlassen das Dorf«, stellte Sanderson fest. »Meiner Erfahrung nach haben diese Wilden jedes Mal, wenn sie antreten oder in irgendeine Richtung abmarschieren, eine Schurkerei vor.«
»Sehen Sie Jungen?«, fragte Natalia. »Wir sind nicht gekommen für die anderen. Wenn Zeit gekommen ist, werden wir …«
»Kein Junge«, verneinte der Major. Er teilte die Blätterwand vor ihrem Versteck, um das andere Ufer genauer in Augenschein nehmen zu können. Sie verzog das Gesicht, diese Menschen waren solche Tölpel, sie hatten keine Ahnung, wie man sich den Geräuschen des Waldes angleicht. Die Wölfe würden ganz bestimmt -
»Moment mal - das ist doch ein weißer Junge!«, sagte der Major plötzlich.
Natalia schaute. Ein schlaksiger weißer Halbwüchsiger lugte aus einem Zelteingang hervor. Sein Oberkörper war nackt, wie das bei den Indianern üblich war. Seine Glieder wirkten geschmeidig; süßlicher Knabenschweiß strömte von ihm aus. Sein Haar war dunkel und lang, sein Blick nachdenklich; er war nicht unattraktiv, und Natalias Herz schlug ein bisschen schneller. Ihre Sinne wurden mit dem aufgehenden Mond schärfer, deshalb nahm sie ihn ausgezeichnet wahr; sie schmeckte fast die heißen Stellen unter seinen Armen und zwischen seinen Beinen.
Er roch vertraut, aber er war nicht der Junge, den sie suchten. »Nein«, sagte sie.
»Wie können Sie so sicher sein?«, fragte der Major. »Ich kenne die Wilden, Madam; sie verwandeln jedes Kind innerhalb eines Jahres in einen Eingeborenen, der Hunde frisst, sich mit Hirschfett beschmiert und nach dem Müll stinkt, in dem diese Primitiven hausen. In zwei Jahren ist er bestimmt nicht mehr wiederzuerkennen.«
»Glauben Sie mir, Major … meine Sinne sind schärfer als Ihre …«
»Aber vielleicht durch das Silber beschränkt!«
»Hören Sie auf, Major, er ist nicht mal blond!«
»Tarnung! Diese Indianer tun alles, um einen weißen Gefangenen zu verstecken …«
»Ruhig … der Mond geht auf.«
Sie zog den Umhang fester um sich. Sie bedeckte sogar ihre Augen. Die Welt bestand nur noch aus Geruch; trotz der absoluten Schwärze badete die Welt in brillanten, bunten Gerüchen; das frische Wasser, die Urinmarkierungen der Wölfe, der bittere Duft sterbender Kiefernzapfen und die schwere Süße von Wölfinnen in der Paarungszeit. Sie hörte den Major zu seinem Pferd gehen, hörte die Patronen in seiner Tasche klimpern, das Klicken einer Flinte, die geladen wurde.
Sie sagte: »Wir gehen ein bisschen weiter entfernt über den Bach … in Windrichtung. Sonst wittern sie uns.« Sie schnupperte, versuchte, die Witterung des Grafensohnes aufzunehmen.
»Madam, bitte glauben Sie mir, dass ich in der Kriegsführung durchaus bewandert bin. Wir sind hierhergekommen, um einen weißen Jungen zu töten, und es ist ganz und gar unvorstellbar, dass in einem derart abgelegenen Dorf mehr als einer …«
Er watete durch den Bach.
»Sie Idiot!« Sie packte ihn am Ärmel. »In Windrichtung … in Windrichtung!«
Im Halbdunkel des Tipis sah Speranza die Schatten tanzen. »Ist das Musik?«, fragte sie. Draußen war zwischen dem Heulen, das aus allen Richtungen herandrang, ein hohes Klagen zu hören, wie von einer indianischen Liebesflöte.
»Das ist nichts, Madam«, antwortete Teddy, ohne auch nur einmal den Blick von seinem Freund zu wenden. »Nur der Wind.«
Wieder dieser Klang. Dass rußige Flackern der Petroleumlampe - Sie dachte: Ich träume. Ich falle aus der realen Welt in -
Sie suchte in ihrem Mieder nach dem Koka-Pulver. Ihre Vorräte waren beinahe erschöpft! Verzweifelt schnupfte sie die letzten Körner. In ihr war ein riesiges Loch, von dem das Pulver aufgesogen wurde und das immer mehr und mehr verlangte. Sie schauderte, das Tipi schien zu schwanken, und über allem schwebte das hohe Pfeifen der Flöte - und ihr Name - ihr Name, gerufen von einem einsamen Kind - Speranza - Speranza -
Sie wusste nicht, wann genau der Traum begann. Sie wusste nur, dass die anderen in der Zeit
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