Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
Vom Netzwerk:
stehen bleiben, Johnny! Nicht in die Gesichter schauen …«
    Graue Lider. Graue Lippen. Flüsterten. Blut. Eine Kreuzung.
    »Ich erinnere mich an etwas …«
    Er blieb stehen.
    Das Gesicht schaute ihn zornig an. Der Qualm versengte seine Lungen. Die grauen Lider öffneten sich, unter ihnen blaue Augen, die Augen einer wunderschönen Frau, deren Lippen sich zum Kuss öffneten. Das Bild schlug ihn in Bann - war es Speranza? Warum hatte er Speranza so geliebt? Vielleicht, weil sie jener anderen Frau so ähnlich war? Plötzlich hatte er das Gefühl, etwas unwiederbringlich verloren zu haben. »Sie ist tot«, flüsterte er.
    »Natürlich ist sie tot«, bestätigte Jake. Er schien mehr über Johnny zu wissen als dieser selbst. »Natürlich ist sie tot … du hast sie umgebracht!«
    Und Johnny schrie: »Nein! Nein! Ich war’s nicht! Das war ich nicht! Jonas war es! Jonas! «
    »Du wirst es bald erfahren«, sagte Jake. »Komm weiter. Wir müssen alle gemeinsam da durch … wenn uns der Wolfsjunge über den dunklen Fluss bringt.«

    Sie waren in Little Elk Womans Tipi. Die Bewohner des Dorfes, die den Wandel bereits spürten, waren längst in den Wald verschwunden. Der Wandel war etwas Heiliges, und jeder von ihnen vollzog ihn in einem eigenen Ritual, das ihm in einem Traum von seinem Totemtier verraten worden war. Im Zelt waren Speranza und Scott und Teddy Grumiaux und Little Elk Woman, die in einem Kessel rührte, sowie zwei Dorfkinder, die ihren Totemtraum noch nicht gehabt hatten und deshalb ihre Gestalt nicht wandeln konnten.
    Speranza und die Kinder kauerten auf einer Büffeldecke im Hintergrund und schauten zu, wie Teddy einen Kreis aus Silberstücken um seinen Freund zog. Das Silber schien für die Shungmanitu etwas Beängstigendes auszustrahlen, denn die Kinder zogen sich die Büffeldecke über den Kopf und schielten mit großen - und vom Anblick des Mondmetalls tränenden - Augen darunter hervor.
    »Der Mond geht bald auf, Ma«, sagte Teddy, und Little Elk Woman erhob sich, löschte das Feuer und zog die Schnüre fest, mit denen der Rauchabzug verschlossen wurde. Sie sah Scott in seinem Silberkreis auf allen vieren hocken, schnuppern, mit schmalen Augen unruhig hin und her schaukeln.
    »Du wirst dich nicht wandeln, Scott. Wir passen auf dich auf. Kein einziger Mondstrahl wird dich erreichen, Scott Harper.« Er sagte es immer und immer wieder wie ein Gebet. Sie ahnte, dass dies ein Ritual zwischen den beiden war.
    Little Elk Woman flüsterte einem Kind etwas zu; das Mädchen krabbelte zum Eingang und zog die Zeltbahnen herunter. Es war dunkel. Little Elk Woman öffnete eine Kiste, zog zu Speranzas großem Erstaunen eine Petroleumlampe hervor, wie man sie bei Montgomery Ward bestellen konnte, und entzündete sie mit einem Streichholz. Die Silberstücke auf den schwarzen Büffelfellen glänzten im Lampenschein.
    Sie hörten Heulen. Die Kinder blickten auf. Sie weinten nicht. Das Heulen kam näher.

    Scotts Gesicht war schweißnass; Teddy beobachtete ihn besorgt. Er stopfte seine Pistole in die Falten seiner Hose. Drei weitere Waffen lagen vor ihm. Eine Menge Silber.
    »Johnny kommt wahrscheinlich morgen früh, nachdem der Mond untergegangen ist«, meinte Teddy. »Und Ishnazuyai auch, meinen sie. Dann ist alles vorbei.« Er klang wenig überzeugend. Er spielte mit den Waffen, ordnete sie und ordnete sie wieder neu, ohne Speranzas Blick zu erwidern. »Keine Angst, Miss Speranza«, fügte er hinzu, um sie zu beruhigen, »ich erschieße schon keine Indianer. Sie sind unsere Gastgeber, und sie haben meine Ma und Ihren Johnny und uns aufgenommen. Die Waffen hier hab ich nur … nur für alle Fälle …« Er blickte zu Scott hinüber. »Vielleicht sollten Sie auch eine bei sich tragen«, schlug er vor, angelte die Remington aus seiner Hose und schob sie zu ihr hinüber. Sie schaute darauf, nahm sie aber nicht. Die Kinder neben ihr versteckten sich unter dem Büffelfell.
     
    »Ich nehme an, wir haben lange genug gewartet, Madam«, sagte Major Sanderson, den es kaum mehr in ihrem Versteck hielt. »Der Mond geht bald auf, und …«
    Natalia schauderte und zog sich den schwarzen Samtumhang tiefer ins Gesicht, verbarg sich vor dem Licht, das sie schon jetzt, obwohl es noch hinter dem Horizont war, lockte … wegen des Silbers in ihrem Blut war sie dazu verdammt, ewig ein Halb-Werwolf zu sein, immer kurz vor der Verwandlung stehenzubleiben. Aber das Mondlicht fasste sie noch immer an, zerrte an ihr, lockte das verwundete Tier in

Weitere Kostenlose Bücher