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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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war.
    Teddy trat ihn in den Bauch, schleuderte ihn gegen die Zeltwand, schlug ihm die Waffe aus der Hand. Die Zeltstangen schwankten vor und zurück, die Petroleumlampe war umgefallen, das Feuer schlängelte sich über die Büffelfelle, und der stinkende Qualm versengter Haare würgte ihn. Der Major lachte. »Du kommst auch noch dran, verdammtes Halbblut … ich hasse dich.«
    Dann merkte Teddy, dass Scott und die Russin einander anstarrten, als wollten sie sich gegenseitig hypnotisieren. Und die Russin verwandelte sich - langsam, entsetzlich langsam -
    »Mein schöner Soldat«, sagte Natalia. »Wir können einander einfach nicht entkommen …«
    Scott heulte! Kratzte an der Silbermauer, jaulte, als das Mondmetall ihn verbrannte! »Hör auf, sie ist dein Feind, sie will dich auffressen, deine Seele stehlen …« Aber es war, als würde Scott ihn überhaupt nicht hören. Sein Blick hing an der Russin. Rauch in Teddys Augen. Ma ist tot, dachte er, wie ich die ganzen Jahre über geglaubt habe. Ich habe einmal um sie getrauert: Jetzt kann ich nichts mehr fühlen, gar nichts.
    Sie lag im Qualm, die beiden toten Kinder auf ihrem Schoß,
und ihr Blut färbte das Büffelfell schwarz. Warum kann ich nichts empfinden?, fragte er sich. Dann drehte er sich zu dem Major um, der auf ihn zustürzte, ihn mit bloßen Händen erwürgen wollte.
    »Komm - komm - komm über den silbernen Fluss …«, lockte Natalia Petrowna. »Ich warte am anderen Ufer auf dich, ich bin dein dunkles Verlangen.«
    Und Scott sprang über den Silberkreis, und die beiden, nicht ganz Wolf und nicht ganz Mensch, umkreisten einander, während die Zeltstangen Feuer fingen.
    »Hilf mir, Scott!«, brüllte Teddy. Scott schien einen Augenblick lang irritiert zu sein: Er wandte sich zu Teddy um. Er beschnüffelte den Boden, trabte auf den Jungen zu, während Natalia sich bereit machte, ihn anzuspringen.
    In diesem Augenblick erhob sich Speranza.
    Sie stand in einem Sturm, der nur um sie allein tobte. Ihr Haar flatterte in einem Wind, den niemand sonst spürte. Und sie ging los. Als sie die Zeltwand erreicht hatte, fraß sich das Feuer durch die Bespannung und gab eine mannsgroße Öffnung frei.
    Der Major war einen Moment lang irritiert. Teddy befreite sich und rannte hinter Speranza her. Scott war bei ihm. Er war wieder ein bisschen mehr Mensch. Natalia folgte ihm auf den Fersen.
    »Sie ist immer noch in ihrem Traum«, erklärte Teddy. »… aber es ist ein wahrer Traum … ich glaube, er … ruft sie … wir müssen zu ihm, bevor ihm … was geschieht …«
    Speranza ging schnell und zielsicher vorwärts. Vom Lager fort. Bachaufwärts. Träumten sie etwa auch? Hinter ihnen loderte das Tipi. Sie hörten Kinder husten und alte Männer rufen, die das Feuer löschen wollten. Speranza marschierte weiter. Schnell. Der Wald teilte sich vor ihr, und der Nebel wich vor ihr zurück. Schnell, schnell. Er konnte kaum Schritt halten. Er sah nicht einmal, ob ihre Füße überhaupt den Boden berührten,
aber er wusste, dass sie auf dem Wind des Traumes flog. Welche Kraft auch immer ausgelöst worden war, sie war stark genug, alle vier zu tragen … die Russin, den Major, den Deserteur, das Halbblut, alle waren wie in einem Haus in einem Wirbelsturm gefangen.
     
    Wolfsjunge spürte die anderen kommen. Er konnte sie noch nicht sehen. Sie waren noch nicht im magischen Kreis. Bevor sie ihn erreichten, bevor er sie heilen konnte, würde jeder von ihnen gegen seine ureigenste Dunkelheit kämpfen müssen.
    Aber - da waren noch andere - die Frau kannte er, es war die Frau, die den Jungen liebte, aber wer waren die anderen? Er kannte sie noch nicht.
    Was sollte er tun? Plötzlich sah er die Flöte vor sich liegen. Es überraschte ihn nicht, dass sie aus dem Nichts aufgetaucht war; das Totemtier wusste, was es alles heranschaffen musste, um den Traum wirklich werden zu lassen. Er hob die Flöte auf; kein Zedernholz, sondern Knochen; er hatte sie selbst aus dem Hüftknochen einer Großmutter geschnitzt. Ishnazuyais Mutter vielleicht, die auf ihrem Weg zum Mondtanz im Schnee gestorben war, im Schnee neben den Schienen des eisernen Rosses.
    Er begann zu spielen.
    Es war beinahe die Melodie der Liebesflöte, aber in ihr schwang auch eine Ahnung des Todesgesangs. Es war eine langsame, rekursive Melodie, die immer nur um wenige Töne stieg oder fiel. Eine langsame Regelmäßigkeit lag in ihr, wie der Wechsel der Gezeiten, wie der Wandel des Mondes. Eine neue Musik für einen neuen Mondtanz. Er

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