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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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seinem Geist war der Wald niedergebrannt, und die Bäume bluteten aus tausend Wunden. Der magische Kreis war gebrochen. Sie fanden die Lichtung nicht mehr. Ziellos wanderten sie über das aschgraue Land. Heiße Steine qualmten, und die Bachläufe waren ausgedörrt wie die Kehle eines Toten.
Eine nicht enden wollende Dämmerung hatte sich über das Land gebreitet.
    Johnny Kindred hatte vergessen, wie lange er und die anderen unterwegs waren. In der Ferne standen noch Bäume, zu fantastischen Gebilden verdreht, manche kahl, manche kopfüberstehend, sodass die Wurzeln im eisigen, scharfen Wind zuckten.
    »Weiter«, sagte Jake Killingsworth. »Wir müssen die Lichtung vor Anbruch der Nacht erreichen.«
    »Warum?«, fragte Johnny. »Es wird keine Nacht mehr geben. Es gibt keine Lichtung mehr.«
    »Sir«, widersprach James Karney, »ich bin überzeugt, dass die Lichtung noch existiert; sie ist jetzt fest in der Hand Jonas Kays …«
    »Und deshalb müssen wir sie finden«, betonte Jake. »Vielleicht glaubt Jonas, dass wir alle tot sind. Aber es hat uns nur tiefer in den Geist verschlagen. Wir befinden uns in einer Art Fegefeuer.«
    »Aber wir sind so gut wie tot. Wir haben keinen Führer mehr. Wo ist der Indianer? Ich kann ihn nicht mehr fühlen. Ich glaube, er ist verschwunden, für immer fort. Ich kann mich nicht mehr heilen. Und wo ist Speranza? Da ist nur der alte Schlangenölhändler, und er hat mit Jonas … ein Abkommen geschlossen.«
    »Ich weiß nicht, wo der Indianer ist. Aber wir können ihn retten.«
    »Wozu?« Vielleicht kann ich mich ausblasen wie eine Kerze, dachte Johnny. Wahrscheinlich würden wir alle sterben, wenn ich das täte.
    Aber Jake hatte seinen Gedanken gehört. Und sagte: »Vergiss nicht, was der Indianer in seiner Vision sah … du kannst nicht sterben, Johnny, nur durch die Hand von jemandem, der dich wirklich liebt.«
    »Warum kann ich nicht sterben? O Gott, ich möchte sterben
… nur noch sterben … bitte, lass mich sterben. Gott, lass mich sterben.«
    »Gott?« Es war Joachim, der fast nie sprach, sondern immer nur Violine spielte. »Vielleicht ist es an der Zeit, das Konzept ›Gott‹ aufzugeben. Es ist eine durch und durch menschliche Idee. Ich glaube nicht, dass es einen Gott der Werwölfe gibt.«
    Jake wollte ihm antworten. Aber plötzlich wurde Johnny in die Luft gewirbelt, sah das ganze Universum davontrudeln, dann war nur noch Schwärze um ihn, und Schmerz explodierte in seinem Körper, Schmerz, der von seinem aufgerissenen Anus ausging wie ein Prügel, der seine Schultern zerschmetterte wie eine Peitsche, die über seinen Hintern zuckte, Schmerz, der ihn durchtränkte, der sein Rückgrat hinaufraste, in seinem Gedärm, in seinen Eingeweiden bis hinauf zum Herzen Schmerz, Schmerz -
    »Wie gefällt dir das, Johnny Kindred?«
    »Nein … nein … lass mich los …«
    »Du willst doch gar nicht mehr auf die Lichtung, JohnnyBoy. Sie gehört jetzt mir allein. Du willst nicht mehr zurück. Ich komme viel besser allein zurecht, du jämmerlicher Waschlappen. Von jetzt an werde ich dich nur noch rufen, damit du den Schmerz auf dich nimmst. Nur dafür taugst du!«
    »Bleib unten im Fegefeuer, Johnny-Boy … du bist nicht Manns genug für die Hölle!«
     
    Und Cordwainer Claggart ritt, nachdem er sich erleichtert hatte, nach Wyoming weiter, pfiff vor sich hin, richtete seine Krawatte und bürstete seine Weste ab, denn er musste eine respektable Erscheinung abgeben, wenn er den nächsten Außenposten der Zivilisation erreichte.

11
    Winter Eyes
    Ein Tag nach Vollmond
     
    Sie kamen rechtzeitig zur Beerdigung zurück nach Winter Eyes.
    Die Hitze war lähmend; Natalia konnte den toten Grafen bereits vom Waldrand aus riechen. Nach ihrer Ankunft kleidete sie sich, wie es sich ziemte, ganz in Schwarz. Der Major legte seine Ausgehuniform an (er bewahrte ständig einen Satz Uniformen im Hause von Bächl-Wölfling auf); das Begräbnis zog sich hin, es wurde viel geweint, aber man schickte sich in das Unausweichliche. Nur wenige Hoffnungen mussten mit dem Grafen zu Grabe getragen werden; wesentlich mehr Hoffnungen wurden neu geboren, es formierten sich bereits Fraktionen.
    Spätnachmittags verabschiedete sich der Major. Natalia zog sich ins Haus zurück, um mit Vishnevsky zu konferieren.
    Am gleichen Abend, während sie zu zweit an der langen Mahagonitafel im Speisezimmer von Bächl-Wölfling dinierten, überreichte er ihr ein vergilbtes Dokument, das nach Fäulnis stank. Er erklärte ihr, dass er es

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