Wolfsruf
kleines Mädchen namens Rotkäppchen lebte in einem Wald, und der Wald roch nach -
»Miss Martin?«
Sie schaute auf. Ein Mann in mittleren Jahren, schlicht gekleidet, mit gezwirbeltem Schnurrbart und leuchtenden Augen, stand vor ihr. »Miss Martin?«, wiederholte er. »Sie sind mir im Zug von Carson City aufgefallen, und ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht Hilfe brauchen …«
Sie wollte protestieren, aber der Mann sprach mit so freundlicher Stimme weiter, dass es ihr unvorstellbar erschien, er könnte ihre Situation ausnutzen wollen. »Dürfte ich Sie vielleicht … zum Essen einladen?«
»Ich bin keineswegs …«, setzte Speranza an. Nein. Die Zeiten, als sie noch eine Anstandsdame brauchte oder an den Absichten eines Fremden zweifelte, der die Frechheit besaß, sie zum Essen einzuladen, waren längst vorbei. Ich bin eine gefallene Frau, sagte sie sich. Wenn diese Bibel - und meine Albträume - ein Hinweis sind, dann bin ich inzwischen zu jeder Schändlichkeit bereit.
Der Mann trat einen Schritt zurück. »Verzeihen Sie, Miss Martin, wenn ich Ihnen nahegetreten bin. Wissen Sie … die anderen Passagiere haben sich immer über Ihre Hochnäsigkeit lustig gemacht, aber ich glaube, Sie … wollten einfach allein sein. Ich war selbst lange allein, ich bin Witwer. Ich verstehe das.«
Speranza begann mit einer Leidenschaft zu weinen, die sie sich selbst nicht mehr zugetraut hätte. Und mit dieser Leidenschaft kam die Übelkeit, und sie musste sich übergeben.
»Sie tragen ein Kind«, erkannte der Fremde. Aber es klang nicht vorwurfsvoll, und dafür war sie ihm dankbar.
Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Rotkäppchen und versteckte sich in seiner Mutter, die ein Wolf war, und wartete, bis die Jäger pusteten und pusteten und -
Sie wusste, dass sie die Einladung des Fremden annehmen würde. Vielleicht fand er irgendeine Beschäftigung für sie, so dass sie alles, was geschehen war, vergessen konnte.
Er reichte ihr seine Hand; sie bemerkte, dass die Rüschen seines Hemdes aus Seide waren und eine goldene Uhrkette seine Weste zierte. »Ich bin Bankier und besitze in dieser Stadt einigen Einfluss; ich hoffe, dass Ihnen meine Gesellschaft nicht unangenehm ist. Ich heiße William Dupré.«
Der Bauch ist das Baumhaus ist Blut.
Vierter Teil
MONDTANZ
1
1963: South Dakota
Zunehmender Mond
Aus Carrie Duprés Notizbuch:
William Dupré.
Mein Urgroßvater.
Ich schätze, damals wurde mir endgültig klar, dass dies nicht nur die Geschichte des Killers von Laramie war - der ungewöhnlichste bisher bekannte Fall von multipler Persönlichkeit - eine lykanthropische Familiensaga - ein spektakuläres, höchst ungewöhnliches Panorama des Wilden Westens. Die Geschichte umfasste all dies, aber es war auch meine Geschichte.
Und die Albträume waren meine Albträume.
Es waren Albträume, die mich jede Nacht heimsuchten - intensiver nach den Sitzungen mit J. K. Je tiefer wir in die Welt in J. K.s Kopf eintauchten, desto lebhafter wurden sie. Fragmente alter Märchen mischten sich mit Grand Guignol und sexuell behafteten Bildern, abstoßend und erotisch zugleich. Bilder von Geburt, Abtreibung, deformierten Embryonen, Babys mit Hundeschnauzen, blutigen, speichelnassen Fängen, gelben Augen. Ich brauchte mir nichts von Dr. La Loge über die freudschen Implikationen dieser ganzen Lykanthropie-Theorie erklären zu lassen - ich bekam sie jede Nacht frei Haus serviert. Ich hatte Angst vor dem Schlafengehen. Angst davor, J. K. mit meinem Tonbandgerät und meinem Notizblock gegenüberzutreten. Angst vor dem Alleinsein. Angst von morgens bis abends.
Ich hatte mir gelobt, nie wieder zu rauchen, als ich meinen Abschluss in Berkeley gemacht hatte - nicht einmal Marihuana. Aber als Johnny Kindred von den Indianern gefangen wurde, als
Speranza kokssüchtig wurde - da kaufte ich mir Winston 100. Erst war es ein Päckchen am Tag, nicht besonders viel, später wurden es zwei.
Ich musste für ein, zwei Tage aus Winter Eyes verschwinden. Der Sommer war absolut erdrückend; die Klimaanlage war ausgefallen, und die Wände im alten Trakt schwitzten, die Pfleger schlurften kurzärmelig herum, die Insassen waren schlapp und die Ärzte lustlos. Ich las, dass in der Pine Ridge Reservation ein großer Sonnentanz stattfinden würde, und mir war klar, dass Preston dort sein würde. Ich stieg in den Wagen, den ich wochenlang nicht mehr benützt hatte, seit ich aus Lead zurückgekommen war. Der Winter hatte es mit dem alten Impala
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