Wolfsruf
aus Dr. Szymanowskis Sarg geholt habe. Sie sprachen Russisch, damit die wallachischen Dienstmädchen sie nicht verstehen konnten. Sie hatte sich den besten Wein bringen lassen; zu ihrem Erstaunen war es ein Rotwein, der im Jahr 1791 auf dem wallachischen Gut des Grafen gekeltert worden war. Fast hundert Jahre alt, dachte sie und schüttete ein Glasvoll in einem Zug hinunter.
»Trink nicht so viel«, mahnte er sie. »Und … lies.«
Es war ein Testament in Hartmuts Handschrift. Vergeblich versuchte sie sich einzureden, dass es eine Fälschung war; sie wusste, dass er es geschrieben hatte, denn aus jedem Satz, jedem Komma sprach sein Stil.
Sie sagte: »Niemand darf davon erfahren.«
»Natürlich … Gräfin«, bestätigte Vishnevsky.
Sie lächelte dünn. »Wir haben Krieg. Solange Krieg herrscht, herrscht Einigkeit. Und diese zu bewahren, ist meine wichtigste Aufgabe.«
»Ja, Gräfin«, wiederholte Valentin Nikolaievich, obwohl sie wusste, dass er sich bestimmt nicht hinters Licht führen ließ.
»O Valentin«, sagte sie plötzlich ganz anschmiegsam. »Warum tadelst du mich nicht einmal für meine Anmaßung? Und dieses ›Gräfin … Gräfin‹ … seit wann bist du so formell, mon cousin? Seit wann nennst du mich nicht mehr tyi? «
»Ich kenne meinen Platz«, erwiderte Vishnevsky und verbeugte sich. »Und vor allem weiß ich, dass mein Schicksal mit deinem verknüpft ist. Deinen Sturz werde ich nicht überleben.«
Sie nahm einen großen Schluck. Aber es war die Macht, nicht der Wein, die sie trunken machte.
12
San Francisco
Neumond
Wieder einmal saß sie in einem Wartesaal. Er war nicht nach Geschlechtern getrennt - so viel europäische Lebensart durfte man im Wilden Westen nicht erwarten -, aber es herrschte ein Überfluss, den sie während der Jahre in Dakota einfach nicht gewöhnt gewesen war: angefangen von den braunen Samttapeten mit aufgedruckten Cupidos bis zu den verschnörkelten Messinglampen, deren Flammen von Engeln mit wallendem Haar getragen wurden.
Wieder einmal - wie zu Beginn all ihrer Abenteuer - trug sie ein einfaches schwarzes Kleid und suchte Zuflucht in der Bibel,
obwohl es sich diesmal um ein leinengebundenes Exemplar handelte, das sie aus zweiter Hand von einem Mormonenpriester im Zug erworben hatte und das - auf den zweiten Blick - viele fremde Passagen enthielt.
Es half nichts. Die Albträume wollten nicht weichen. Das Rattern der Geleise hatte sie von Cheyenne durch Utah begleitet, wo sie die Eisenbahngesellschaft gewechselt hatte, durch Nevada und die gefährlichen Sierras; der Zug hatte sich durch engste Kurven geschlängelt, war Steigungen hinaufgeschnauft und Gefälle wieder hinunter, durch strahlende Sonnenaufund -untergänge. Sie war in der ersten Klasse gefahren - ihr Goldvorrat schmolz zwar schnell dahin, doch dafür reichte es noch -, und ihre gelegentlichen Ausflüge aus ihrem Abteil zum Speisewagen oder zur Bibliothek hatten den anderen Passagieren anregenden Gesprächsstoff geboten. Denn auf so langen Reisen lösen sich die Zungen; ein distanzierter Mitreisender wird unweigerlich Opfer verschiedenster Spekulationen und allgemeinen Gesprächstoffes. Und so geschah es, dass Miss Hope Martin, wie sie an Bord des Pacific Express genannt wurde, in San Francisco mit einer Vergangenheit ankam, oder vielmehr mit Dutzenden von Vergangenheiten, von denen eine bunter als die andere und doch keine mit der Wirklichkeit zu vergleichen war. Sie hatte die ganze Fahrt über mit niemandem gesprochen, außer in ihren Träumen.
Und so waren ihre Albträume:
Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Rotkäppchen und lebte im Wald. Es hieß Rotkäppchen, weil ihre Möse immer blutig war und alle Wölfe anlockte, und wenn sie sich fürchtete, dann blutete sie noch mehr, und die Wölfe pusteten und pusteten und bliesen ihr Papierhäuschen einfach fort wie die Seiten einer Bibel und -
Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Rotkäppchen und weinte am Fuß eines Kruzifixes und wiegte einen kleinen Welpen in ihren Armen und -
Dunkel im Wolfsbauch. Die Jäger kommen bald. Dumpfe Schüsse
in der Ferne, Dunkel. Die Wände schwitzen Blut. Monatsblut. Die Wände schwitzen. Und pusten und pusten und -
Am Fuß des Kreuzes -
Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Rotkäppchen und krabbelte zu seiner Mutter ins Bett und winselte: Ich bin ein guter Junge, und seine Mutter war ein Wolf, und das Letzte, was er sah, waren ihre Zähne um ihre bluttriefende Möse herum und -
Ein
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