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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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schlug Natalia vor. Sie brauchte nicht erst auszusprechen, was ohnehin alle dachten. Wenn ein Mitglied des Rudels zu schwach wurde, dann konnten die anderen beschließen, ob es getötet werden sollte; das Gesetz war uralt und nie angewendet worden, solange man sich zurückerinnern konnte.
    Außer im Fall der verstorbenen Gräfin von Bächl-Wölfling, deren Statue immer noch im Park des Wiener Stadthauses stand, der ersten Madonna der Wölfe.
    Die Baronin wirbelte im Rollstuhl herum, während ihr Liebhaber versuchte, sie zurückzuhalten. »Luder!«, zeterte sie. »Hure! Du warst nie das echte Weib des Grafen …« Sie kreischte immer weiter auf Deutsch, sodass Natalia sie schließlich ignorierte und sich an die anderen wandte.
    »Ich habe nicht die Macht dazu; das Urteil muss von allen gefällt werden.« Es würde ein langer Abend werden; jeder würde seine Meinung vortragen, manche für Milde, andere für Härte plädieren, wieder andere einen nicht existenten Mittelweg einschlagen wollen. Währenddessen würde Levy hier liegen, und sein Körper würde von der Krankheit verzehrt werden. Er konnte nicht einmal mehr sprechen; seine Augen waren glasig, und von Zeit zu Zeit entrang sich seiner Kehle ein ersticktes Wimmern. Seine Agonie mahnte die anderen Wölfe an ihre Sterblichkeit, und sie wusste, dass die meisten sich lieber für unsterblich hielten.
    Sie würden ihre Stadt keinesfalls mit einem lebenden Memento Mori teilen wollen. Levy würde bei lebendigem Leibe verfaulen. Die Räude würde seine Haut zerfressen, ihn erblinden lassen, ihn stinken lassen wie faules Fleisch. Sie wusste bereits jetzt, wie der Rat sich entscheiden würde.
    Spätestens morgen früh haben sie ihn zerfleischt, dachte sie.
Laut sagte sie: »Ich muss mich um die Welpen kümmern«, und verschwand ohne weiteres Aufheben aus der Halle. Sie fühlte plötzlich eine düstere Bedrohung, als würde die Krankheit ihre Klauen ausstrecken und sich um ihre Kinder schlingen.
    Sie waren nicht mehr in der Garderobe. Aufgeregt stürzte sie auf die Straße. Die Sonne war untergegangen. Die Gebäude lagen im Dämmerlicht, die Straßen waren leer. »Katyusha … Sasha …«, rief sie leise. »Valentin …«
    Dann hörte sie Kinderlachen. Sie spielten auf dem Gehsteig der gegenüberliegenden Straßenseite. Ihre Stimmen klangen schrill im feuchten Wind. Ihr Geruch wehte ihnen voraus und ließ sie lächeln.
    Ein Schrei aus dem Rathaus. Das Todesurteil. Es war schneller gekommen, als sie gedacht hatte.

9
    Lead
    Neumond
     
    Speranza hatte seit einigen Tagen kein Koka-Pulver mehr geschnupft, nachdem man ihr in Bitter Creek den Umschlag gestohlen hatte. Die Albträume wurden schlimmer; das Kokain hatte sie betäubt, aber jetzt besaß sie nichts mehr, um die Schrecken abzuwehren, die sie überfielen, sobald sie die Lider schloss. Sie sagte sich: Ich muss zurück nach San Francisco. Was soll ich hier? Ich scheitere immer wieder; selbst wenn ich den Jungen finden sollte, erkennt er mich vielleicht nicht mehr, schade ich ihm vielleicht mehr, als dass ich ihm helfe.
    Obwohl sie sich das einredete, wusste sie, dass sie weitermachen musste. Erst wenn sie Johnny gefunden hatte, würden die Albträume verschwinden.
    In Cheyenne erwarb sie eine Flasche Laudanum, bevor sie
die Kutsche nach Deadwood und Lead bestieg. Es war eine äußerst unangenehme Reise; die Kutsche war alt und klapprig und so voll, dass sie ein fremdes Bein zwischen ihre Schenkel nehmen musste; die einzige Wärmequelle bestand aus einem heißen Backstein in einem Handtuch, der unter ihren Füßen lag und nur bei einem Pferdewechsel wieder aufgeheizt wurde.
    Speranza war glücklich, als sie endlich in einer richtigen Stadt war, wo nichts schaukelte und holperte und kein Schlamm hochspritzte. Es regnete in Lead, aber durch die Vordächer über dem Gehsteig war sie geschützt. Sie suchte nach Dr. Swansons Praxis. Obwohl ihr letzter Besuch äußerst unangenehm verlaufen war, hoffte sie, dass dort noch Briefe von Freud für sie lagen; nachdem sie so plötzlich abgereist war, hatte sie keine Gelegenheit gehabt, dem Doktor eine Nachsendeadresse zukommen zu lassen.
    Es nieselte, die feuchte Luft roch nach Laub. Von zahlreichen Gebäuden stand nur noch die Fassade. Ein Trunkenbold lehnte mit seiner Flasche an der Saloontür. Ein Indianer mit Tuch und Federschmuck teilte Flugblätter aus, die sich mit der Chinesenfrage beschäftigten. War dort nicht die Praxis gewesen, an jenem Platz, wo sie die Hinrichtung

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