Wolfsruf
ihn. Er glaubt, ich habe Angst vor ihm …«
»Er hat Angst«, bestätigte Shungmanitu Hokshila, »weil ich der Einzige bin, der ihn versteht.«
»Ich habe keine Angst vor dir … ich fresse dich auf, und alle anderen dazu … fick dich selbst … fick, fick, fick, fick!«
Der Junge bebte jetzt am ganzen Leib, er wirkte keineswegs furchtlos. Er knurrte den Wind an. Teddy wusste nicht, was er von der Vorstellung halten sollte, deshalb drehte er ihm den Rücken zu und erleichterte sich erst einmal, obwohl der Junge um ihn herumkrabbelte und immer wieder versuchte, in den Urinstrahl zu gelangen.
Plötzlich verharrte der Junge. Lauschte. Teddy hörte nur das Seufzen des Windes. »Fressen«, sagte er. Teddy konnte nicht erkennen, welche Stimme es war. »Komm.« Johnny führte Teddy vom Bach weg. Er lief unsicher, linkisch wie ein Hund, den man zum aufrechten Gang zwingt.
Ein Hirsch lag tot auf der Lichtung. Castellanos kauerte darüber. Er schaute auf. Blut lief ihm aus dem Mundwinkel, und Teddy begriff, dass er das Wild mit den Zähnen gerissen hatte.
Johnny lachte nervös. Teddy entfachte ein Feuer. »Ich esse kein rohes Fleisch«, sagte er zu Castellanos, der einen Fetzen aus dem Rücken riss und ihn Johnny zuwarf.
»Du musst groß und stark werden«, sagte Castellanos.
Teddy erwiderte: »Das stimmt … er ist in den letzten fünf Jahren kein Stück gewachsen.« Das machte ihm zu schaffen, seit sie ihn gerettet hatten. Teddy selbst hatte sich von einem Waisenknaben, der sich mit allerlei Gaunereien durchschlug, in einen Revolverhelden verwandelt, der mehrere Menschen auf dem Gewissen und unzählige Wölfe geschossen hatte. Jedes
Mal, wenn er einen Menschen sterben sah, fühlte er sich älter. Er wusste, dass er nicht mehr wie neunzehn aussah. Der Junge dagegen hatte sich überhaupt nicht verändert. Kein bisschen.
Als würde er seine Verwirrung ahnen, sagte Johnny: »Für mich ist keine Zeit vergangen, Teddy Grumiaux. Aber nachdem du mich nicht zu deinem Schatten machen willst, muss ich jetzt vielleicht ich selbst werden; und dann werde ich vielleicht altern. Und sterben.«
Ein neues Rätsel.
8
Winter Eyes
Abnehmender Mond, sichelförmig
Es war ein guter Wurf. Natalia Petrowna staunte selbst immer wieder darüber, wie sie es geschafft hatte, so schöne Welpen zu gebären - und nur eines war totgeboren.
Sie waren jetzt im Kindergarten und spielten. Einst war dort die Kirche gewesen; jetzt war der Altar mit einem Segeltuch abgedeckt, und im Kirchenschiff lag Spielzeug verstreut herum. Das Spiel der vier Kleinkinder war ungestüm; sie schaute ihnen gerne zu. Sasha mit den blonden Locken heulte schon wie ein ausgewachsener Leitwolf; Katyusha, rothaarig wie ihre Mutter und mit geschlitzten Augen, versteckte sich gerade hinter einem Pfeiler; Kolya und Petrushka umschlichen einander leise knurrend und warteten darauf, dass einer den ersten Sprung wagte.
Sie klatschte in die Hände. »Zeit zum Heimgehen, Kinder … das Essen ist bald fertig!«
»Essen wir heute wie Menschen oder wie Wölfe?«, fragte Sasha.
»Menschen.«
Kurz ertönte Protestgeheul, dann stellten sich die vier schweigend der Größe nach vor ihr auf. Wie schnell hatten sie gelernt, sich in die Hierarchie des Lykanthropenvereins einzufügen! Sie strahlte vor Stolz. »Mal sehen, Kinder. Wenn ihr brav aufesst, dann gibt es vielleicht einen kleinen Nachtisch … Reste vom letzten Vollmond …«
»Knöchelchen!« Katyusha leckte sich die Lippen. »Ich will das Mark aussaugen!«
»Will die Eier abbeißen!«, meldete sich Petrushka, der Gnom, voller Vorfreude an.
»Kinder, Kinder!«, bremste Natalia lachend. Sie hatten sich noch nicht einmal verwandelt - die Fähigkeit dazu erlangten sie normalerweise später -, aber vor allem Sasha konnte seine Wolfsnatur kaum unter seiner menschlichen Hülle verbergen, und bei Vollmond bedeckte ihn ein blonder, feiner Flaum, den Natalia so gerne streichelte. Vielleicht würde sie sich von ihm begatten lassen, wenn er älter war; auf diese Weise würde die Reinheit des Rudels gewahrt bleiben.
Diese Stadt, dieser trostlose Ort, an dem die Winterreise meines Rudels endete, wird doch noch erblühen, dachte sie, während sie zum Eingang liefen. Aber es waren Opfer nötig gewesen. Manche hatten angezweifelt, dass Natalia die wahre Leitwölfin war; einige davon hatte sie im Kampf besiegt. Sie hatte die Baronin von Dittersdorf verstümmeln müssen, die sich mit jedem in Sichtweite gepaart hatte, ob Mensch oder
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