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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Viertel
     
    Teddy stieg von seinem Pferd, um an eine Baumwollstaude zu pinkeln, die am Berghang wuchs.
    »Wenn du schon abgestiegen bist«, rief Victor ihm nach, »werde ich gleich unser Lager aufschlagen. Die Sonne geht bald unter.« Er sprang von seinem Pferd und sammelte gemeinsam mit dem Jungen Brennholz.
    Ein Bach schlängelte sich über eine kleine Lichtung mit den Umrissen eines zusammengekauerten Tieres. Teddy lehnte sich gegen einen Baumstamm und knöpfte sich den Hosenladen auf. Er wartete, bis die beiden anderen außer Sichtweite waren. Castellanos
hatte immer wieder angehalten, um einen Stein oder einen Baum zu markieren; er machte das ganz beiläufig von seinem Sattel aus und stieß einen Jubelschrei aus, wenn er sein Ziel getroffen hatte.
    In ein paar Tagen, dachte Teddy, ist es vorbei. Alle Schulden bezahlt. Zeit, ein neues Leben zu beginnen. Fast als würde ich neu geboren - keine Mutter, keinen Vater, keine Verbindungen mehr zur Vergangenheit.
    Ein seltsamer Gedanke, und kein besonders angenehmer.
    Ein Schatten im Augenwinkel.
    »Was?« Er wirbelte herum. Und sah den Jungen. Der auf seinen Knien hockte wie ein Hund und in den kühlen Herbstwind schnupperte. Johnny stellte sich auf die Fingerspitzen, legte den Kopf schief, krabbelte näher heran. »Was willst du?«
    Der Junge umkreiste ihn. Nicht wie ein Raubtier, sondern wie ein Schoßhündchen, das gestreichelt werden will. Teddys zweitbestes Hemd, das er dem Jungen umgelegt hatte, damit er nicht vollkommen nackt herumlief, war schlammverkrustet, weil der Junge mit dem Bauch über den Boden gekrochen war.
    »Willst du mich nicht anpissen, Teddy?«, winselte der Junge.
    »Natürlich nicht … warum sollte ich?«
    »Ich habe keinen Meister mehr … ich habe keinen Vater … ich muss jemandem gehören … verstehst du das nicht? Ich existiere nur, wenn ich der Schatten eines anderen bin, seine innere Dunkelheit.« Er beobachtete Teddy mit großen Augen, aus denen Sehnsucht und Hoffnung sprachen.
    Teddy antwortete ihm nicht.
    »Ich kann nicht allein sein, Teddy Grumiaux. Ich brauche ein Rudel. Ich bin nicht ich, ich bin nicht eins, ich muss jemandem gehören … ich bin nicht ganz.«
    »Wir bringen dich heim, Junge. Wohin du gehörst.«
    Der Junge packte ihn an den Knien, schnaufte, wackelte mit dem Kopf, scharrte Dreck mit seinen Füßen auf. »Bitte, Teddy Grumiaux, ich bin allein, so allein. Ich apportiere für dich, ich
leck’ dir den Schwanz, ich rolle mich am Boden und stell’ mich tot für dich, ich sterbe für dich. Aber du musst mich zeichnen … zeichnen!«
    »Das kann ich nicht, Johnny.«
    »Ich bin nicht Johnny.«
    Sein Gesicht war verändert. Vor allem die Augen. Die Iris war gelblich. Er schüttelte die Blätter aus seinem Haar und richtete sich auf und schlang seine Arme um Teddys Taille. Sein Haar war feucht von Schweiß; er war heiß, glühte beinahe. Teddy sagte: »Ich hoffe, du kriegst kein Fieber. Du warst so lange nackt in diesem Käfig …«
    »Du hörst mir nicht zu, oder? Johnny ist fort, für immer.«
    »Ich habe gehört, wie er nach Speranza fragte. Als ich dich im Zirkus sah.«
    »Sie sind alle tot, alle außer mir. Dieser Indianer versuchte, uns alle in sich aufzusaugen. Aber dann kam Claggart. Und jetzt sauge ich alle anderen in mich auf, verstehst du? Johnny und alle anderen. Sie werden alle in mir weiterleben … aber ich bin der König. Ich scheiße auf sie und zeichne sie mit meiner Pisse.«
    Plötzlich eine andere Stimme, und Johnnys Gesicht verhärtete, seine Brauen zogen sich zusammen, als wäre er in Trance … es war in der Sprache der Lakota: »Hör nicht auf ihn. Wir haben alle im Wald gewartet. Im Kreis des Mondmetalls warteten wir auf jemanden, der den Kreis zerbricht, so dass wir alle geboren werden können.«
    Eine dritte Stimme: »Ich fürchte mich, Teddy …«
    »Johnny«, sagte Teddy.
    Der Lakota-Sprecher: »Der dunkle Wolf hat beinahe recht. Er hat die anderen für lange Zeit verschluckt. Aber als er die anderen in sich aufnahm, wurde er weniger dunkel; er spürte Johnnys Angst und seinen Schmerz, er bekam Jakes Weisheit, James’ Ergebenheit. Das gefiel ihm nicht, denn all dies zerrte ihn aus seiner Dunkelheit, und er hasste das Licht. Er will eine
Welt, die in ewigem Schatten liegt. Er versuchte, die Sonne zu verschlingen, aber sie verbrannte ihn, und er spuckte sie voll Wut und Schmerz wieder aus.«
    »Hör nicht auf ihn!«, mischte sich Jonas wieder ein. »Er spricht bloß Unsinn. Niemand versteht

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