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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Tier, obwohl Sitte und Gesetz dieses Privileg allein der Leitwölfin zugestanden, die für die Nachkommen zu sorgen hatte. Jetzt siechte die Baronin in einer Dachkammer vor sich hin, und all ihre Liebhaber hatten sie verlassen; manche hatten sich sogar auf die Suche nach dem fast zum Mythos gewordenen Sohn des Grafen begeben.
    An Winter Eyes war nichts Mythisches. Hartmuts Ideen waren mystischer Unsinn gewesen. Ich bin Frau und Wolf, und das ist kein Widerspruch, fand sie. Diese Welt ist wirklich;
meine Kinder, die Blutfeste im Mondschein, manche im Reservat, manche in den Siedlungen, die mitternächtlichen Überfälle auf die Minen - eine Welt aus Blut und Fleisch und Tod -, eine gute Welt, in der meine Kinder aufwachsen und ihre wahre Natur erkennen können.
    Die fünf hatten die Tür der Kirche erreicht und spazierten nun durch den Friedhof, um Hartmuts Grab die Ehre zu erweisen. Zwei junge Männer knieten nieder, als sie vorbeieilten; sie zog die Nüstern hoch, um ihre Dominanz zu zeigen.
    Sie standen vor Hartmut von Bächl-Wölflings Grab. Der Friedhof war in gewisser Weise eine Travestie, denn überall standen Zeichen menschlichen Aberglaubens: Holzkreuze, Heilige oder Engel aus Stein. Aber es war notwendig, den Anschein des Menschlichen zu bewahren; Winter Eyes war nicht so autark, wie Dr. Szymanowski es sich erträumt hatte. Manche Gewerbe waren nicht am Ort ansässig. Es gab zwar eine chinesische Wäscherei, einen Schmied und einen Laden, die alle von lykanthropischen Konvertiten geführt wurden, aber es gab keine Wagenbauer und Näherinnen, die im Notfall aus den umliegenden Orten geholt werden mussten. Trotzdem blühte Winter Eyes auf.
    »Ja«, flüsterte Natalia, als sie vor dem Grab ihres ersten Liebhabers kniete, »wir blühen … wir wachsen … es ist fast beängstigend, n’est-ce pas? Aber wir blühen. Sei mir nicht böse, dass ich dein Testament nicht vollstreckt habe. Ich musste es tun, damit sich deine Vision erfüllt. O Hartmut, du bist vom Weg abgekommen und nicht standhaft geblieben. Deine Leidenschaft für diese einfachen Wesen brachte dich ins Grab. Du warst ein Held mit einem schicksalhaften Makel … dem Mitgefühl.«
    Sie küsste den Stein. Die Rosen waren noch frisch, aber ihr Duft vermochte nicht, den Hauch der Fäulnis zu überdecken, der aus dem saftigen Humus aufstieg. Die Kinder spielten Fangen um die Grabsteine. Sie hinderte sie nicht daran. Es war
nicht angebracht, allzu trübsinnig zu sein. Das Licht der untergehenden Sonne warf lange Schatten.
    Ein Mann blieb hinter ihr stehen. »Valentin Nikolaievich«, sagte sie, »du riechst nach schlechten Nachrichten.«
    »Schnell, Natalia, ruf die Kinder zusammen. Die Ältesten haben eine Versammlung einberufen.«
    »Was ist?«
    »Wieder wurde einer von der neuen Krankheit befallen. Man holt schon den Doktor aus Lead.«
     
    Dr. Josiah Swanson blickte von seinem Patienten auf, als Natalia das Rathaus betrat. Die anderen, die sich um ihn drängten, machten ihr den Weg frei. Als Natalia sah, was vorgefallen war, schickte sie die Kinder hinaus in die Garderobe. »Kommt nicht herein«, befahl sie ihnen. »Hier ist etwas ganz Furchtbares passiert - ganz furchtbar!«
    Auf keinen Fall durfte der Wurf in Gefahr gebracht werden. Sie zitterte leicht, als sie gehorsam hinausliefen. Der Kranke lag auf einer Trage; man hatte ihn mit dem Karren aus Deadwood gebracht. Es war Joshua Levy. In Deadwood hatte er bei Wells Fargo zu tun gehabt. Aufgrund einiger Verzögerungen hatte ihn dort der Vollmond erwischt.
    Jetzt lag er vor ihr; sein Gesicht war schwärenbedeckt, seine Arme und Beine mit Blasen überzogen. Seine Stirn war schweißnass, und sein Bart klebrig vor Speichel und Erbrochenem.
    »Sarkoptische Räude«, diagnostizierte Dr. Swanson. »Mit dieser neuen Krankheit versuchen die Wolfsjäger, die Wölfe auszurotten. Ich hatte keine Ahnung, dass Ihr Volk sich damit infizieren kann. Ich kenne kein Heilmittel dagegen, und ich schätze, er wird nicht mehr lange unter uns weilen, Madam.«
    »Er wird nicht sterben«, widersprach Natalia. »Krankheiten betreffen uns nicht; wir altern, wir werden schwach, aber nicht durch Naturgesetze. Wir stehen außerhalb der Natur.«
    Baronin von Dittersdorf in ihrem Rollstuhl, hinter dem sich
ihr letzter Liebhaber aufgebaut hatte, widersprach: »Aber er wird lange leiden.« Sie warf Natalia einen bösen Blick zu, den diese mit einer ungeduldigen Handbewegung erwiderte.
    »Vielleicht wäre es besser, wenn wir …«,

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