Wolfsruf
beobachtet hatte? Aber die Fenster waren eingeschlagen, die Galgen verschwunden, und die Haustür schwang leise im Wind.
Der Regen wurde stärker.
Sie trat ein. Ein Schild trug die Aufschrift »Dr. Josiah Swanson, Allgemeinarzt«, darunter stand in kleinerer Schrift: »Rabatte auf Barbierarbeiten«. Ein Chinese und ein Schwarzer spielten Karten an einem Tisch und teilten sich eine Wasserpfeife. Opiumqualm erfüllte die Luft, mischte sich mit dem Duft feuchter Erde und alten Laubes.
»Ist Dr. Swanson da?«, fragte sie.
Die beiden antworteten lange nicht. Dann schielte der Chinese sie neugierig an und meinte: »Er in Winter Eyes … keine Geschäfte hier … Stadt tot … kein Gold mehr da.«
»Winter Eyes?«, wiederholte Speranza.
»Böser Ort. Viel Wolf«, bestätigte der Chinese.
Speranza wandte sich ab. Hier war nichts für sie zu holen. Sie ging zurück auf den Gehsteig. Irgendwo in der Ferne hörte sie Gewehrfeuer. Ein reiterloses Pferd galoppierte die Straße entlang und bespritzte sie mit Schlamm. Sie machte sich auf den Weg zurück zur Kutschstation. Sie war ohne Begleitung; sie dachte an ihren Ehemann und an den kleinen William und fragte sich, ob das Kind es ihr übel nehme, dass sie es so lange allein ließ.
Wohin sollte sie jetzt? Nach Winter Eyes, wo die Wölfe sie umbringen würden? Nach Fort Cassandra, dessen Kommandant sich mit dem Lykanthropenverein verbündet hatte? Oder sollte sie aufgeben und nach San Francisco zurückkehren?
Aber dann würden die Albträume nie mehr verschwinden.
Nein, sie hatte keine Wahl. Sie musste gehorchen - nicht der Logik oder dem gesunden Menschenverstand, sondern ihrem Herzen, das ihr sagte, dass der Junge noch lebte, dass er nach ihr rief, dass sie ihn um jeden Preis finden musste.
Der Regen wurde dichter. Sie trat in die Station, wo ihr Gepäck aufgestapelt war, und fragte den Träger, wann sie die Stadt wieder verlassen könnte.
»Die nächste Kutsche kommt erst in drei Tagen, Mrs Dupré, weil wir hier so unfreundliches Wetter haben und kaum Geschäft.«
»Könnten Sie dafür sorgen, dass mein Gepäck nach …« Sie hielt inne, denn ihr wurde bewusst, dass sie die fällige Entscheidung noch nicht getroffen hatte. »Nach Deadwood geschickt wird?«
»Reisen Sie dorthin, Madam?«
»Eventuell. Bei Wells Fargo ist ein Kreditbrief für mich hinterlegt worden, mit dem sich die Kosten regeln lassen; ich wäre Ihnen äußerst dankbar, wenn Sie sich darum kümmern könnten, dass meine Sachen im … Diamond Spur aufbewahrt
werden.« Es war das erstbeste Hotel, das ihr eingefallen war. »Hier«, sagte sie und zog eine Zwanzig-Dollar-Münze aus ihrer Börse, »für Ihre Bemühungen.«
»Sie sollten nicht so viel Gold mit sich herumtragen«, warnte er.
»Niemand wird mir folgen«, versicherte sie ihm. »Können Sie mir noch sagen, wo ich ein Pferd erwerben kann?«
Der Träger starrte sie an. »Wollen Sie allein reisen, Mrs Dupré?«
»Ganz gewiss.«
»Gehen Sie wenigstens nach Fort Cassandra und bitten Sie den Major um eine Eskorte …«
»Das ist das Letzte, was ich tun würde. Und bitte, wenn Sie schon dabei sind«, fuhr sie fort und zog die Lederbibel mit Goldschnitt aus ihrer Tasche, die sie seit ihrer Abreise aus San Francisco bei sich trug, »vielleicht liegt Ihnen daran; Sie werden sie möglicherweise dringender brauchen als ich.«
Es war eine Krücke, sagte sie sich. Ich habe mich lange genug darauf gestützt.
Eine Flut von Erinnerungen: die fette, gefiederte Frau in der Victoria Station, die sie beschimpft hatte; die Russin mit dem Flammenhaar, deren Wangen durch den tödlichen Kuss des Silbers gezeichnet war, der Graf, der ihren Nacken liebkoste, sachte ihre Lippen mit seinen berührte und sie mit seinem tierischen Duft erregte; der Junge mit dem Engelsgesicht, der sie darum bat, ein Kindermärchen umzudichten; der Junge, der zornig gegen den Waggon pisste, der untröstlich weinte, während das Blut der Toten aus seinem Mundwinkel lief.
»Es war falsch von mir, fortzulaufen«, sagte sie, nicht zu dem Träger, sondern zu sich selbst. »Aber jetzt ist Claggart tot. Vielleicht kann das Kind trotz allem gerettet werden. Vielleicht kann ich mich noch selbst erlösen.«
Sie drückte dem Träger die Bibel in die Hand, der sie verständnislos anglotzte. Schnell zerrte sie das Nötigste aus ihrem
Gepäck und packte es in einen kleinen Koffer, dann marschierte sie durch den Regen auf die verfallenen Stallungen am Ende der Straße zu.
Ich muss in den Wald
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