Wolfsruf
reiten, dachte sie. Ich muss auf die leise Stimme hören, die mich in der Sprache der Nacht ruft.
Ich muss in den Wald meiner Albträume reiten.
10
Black Hills
Zunehmender Mond
Es gibt einen Wald, der die ganze Erde bedeckt. An einigen Stellen schlagen die Menschen Lichtungen, bauen Städte, lassen das Sonnenlicht eindringen und errichten das, was man gemeinhin als Zivilisation bezeichnet. Aber der Wald kennt das Wesen der Zeit und wartet. Umschließt. Verschlingt. Niemand weiß, ob der Wald ein Bewusstsein hat. Wir können die Dunkelheit zurückdrängen, aber wir können sie nicht auslöschen.
Das sagte sich Speranza, als sie in den Wald ritt. Sie musste vergessen, dass sie nicht vom Wege abweichen durfte. Sie musste ihre Furcht vor der Dunkelheit besiegen.
»Ich will Rotkäppchen hören … aber Rotkäppchen soll ein Junge sein …« Darum hatte Johnny sie auf ihrer ersten Zugreise gebeten, vor so langer Zeit, auf der Winterreise durch den Schnee. Warum hatte diese unschuldige Bitte in ihren Ohren so obszön geklungen? Jetzt wusste sie, warum. Weil sie sich in die Höhle der Bestie gewagt hatte, weil sie ihren Atem auf ihren Lippen gespürt, weil sie die Bestie geliebt hatte.
Keine Rüschen, kein Korsett mehr. Sie trug billige, zerknitterte, fabrikgenähte Baumwollhosen; eine zu große Jacke; einen formlosen alten Schlapphut; all das hatte sie in einem Laden
in Lead erstanden. Sie ritt nicht einmal mehr im Damensattel. Rotkäppchen war zum Jungen geworden.
Sie war irgendwo auf der Straße nach Deadwood vom Wege abgebogen. Sie war bergauf geritten, immer bergauf, und sie wusste, dass sie immer tiefer in das Gelände ihres Traumes eindrang. Wenn der Traum wirklich ist, dachte sie, dann werde ich ihn finden. Sie folgte ihrem Instinkt, schenkte der Umgebung keine Beachtung. Sie ritt unter nackten Felsspitzen vorbei, an Steilabhängen, verzwirbelten, knorrigen Bäumen, wütend schäumenden Wasserfällen, an Klippen und schmalen Simsen. Sie nahm höchstens die Hälfte davon wahr. Der Traum war stark, und er würde sie zu Johnny führen - wie schon einmal. Sie ritt bergauf. Hier und da lagen bereits Schneeflecken.
»Da«, sagte Teddy Grumiaux, als sie den Bach am Lager der Shungmanitu erreicht hatten. Johnny krabbelte ans Ufer und schlabberte Wasser. Die Sonne ging unter. Rauch kräuselte sich über vielen Tipis. Es waren mehr Zelte als früher; trotz des Krieges mit den Washichun -Wölfen war der Stamm gewachsen.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Castellanos. »Der Junge und ich sind zwar Wölfe, aber das heißt trotzdem nicht, dass man mich willkommen heißen wird.«
»Muss erst was erledigen«, sagte Teddy.
Er führte sie flussabwärts. Sie wateten durchs Wasser, Felsen ragten auf, der Hang stieg steil an. Bald sahen sie das Dorf unter sich und schmeckten den Rauch in der Luft. Kurz darauf hatten sie den Totenplatz erreicht, wo die Verstorbenen auf den hohen Podesten lagen, nahe an Takushkanshkan, dem Himmel, und Wakinyan, den heiligen Vögeln, die sich von ihrem Fleisch ernährten und sie von Neuem in das Gewebe der Welt einfügten.
Johnny schnupperte und stellte fest: »Ich kenne die Menschen hier. O Teddy, ich will nicht …«
»Ruhe. Muss meine Ma finden.« Skelette lagen auf den mit Schildern, Büffelschädeln und skalpbehangenen Lanzen geschmückten Gestellen. Teddy schauderte. Victor Castellanos folgte ihm auf den Fersen, ein bisschen unsicher und leise pfeifend; Teddy spürte, dass er sein Unbehagen zu verbergen versuchte. Und Johnny eilte von Gestell zu Gestell, atmete den Duft des Todes ein, rief ab und zu einen Namen auf Lakota aus. Er erinnerte sich, dachte Teddy.
Plötzlich hörte er Johnny heulen. Er hatte Ishnazuyais Grab gefunden. Er rief: »Até, até«, in der Stimme des Indianers. Er hatte nichts mehr von Jonas Kay an sich; weder in seinen Bewegungen noch in seiner Stimme, die ein heiliges Lied sang, das ihn sein Vater gelehrt hatte. Der Wind pfiff, und er konnte den Jungen kaum verstehen, aber Johnny schien getröstet zu sein.
Dann drehte sich Teddy um und entdeckte Little Elk Woman. Er erkannte sie, obwohl fast nur noch Knochen von ihr übrig waren; sie lag unter einer vertrauten Büffeldecke; als Kind hatte er darauf geschlafen. Ihre Augen waren leer, aber ein paar Fetzen papierdünner Haut hingen noch an ihrem Kinn, und ein paar Haarsträhnen wehten im Wind. Als er neben ihrem toten Körper stand, spürte Teddy, wie sich die Anwesenheit ihres Geistes durch seine
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