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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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bisher Erlebte, und wenn sich die Wolken teilen, werden die Strahlen des Mondes nur auf einen Fleck fallen.«
    Er deutete mit dem Finger nach oben.
    Die Menschen folgten mit dem Blick seinem ausgestreckten Arm, blickten hinauf, sahen den Sims, vorgestreckt, unbezwingbar, eine steinerne Zunge, die am Gipfel des Felsens über den Abgrund ragte.
    Ein Trommelschlag.
    Noch einer.
    Speranza sagte: »Aber Johnny, du musst doch einsehen, dass dich dein Traum nicht überallhin führen kann! Niemand unter euch wird diesen Felsen erklettern können und auf den Sims gelangen, trotzdem erwartest du, dass alle dir folgen … Frauen und Kinder. Du könntest sie ebenso gut bitten, über eine hohe Klippe zu springen … Johnny, nimm Vernunft an!«
    Ruhig antwortete Johnny: »Teddy wird den Fuß des Felsens bewachen. Und du wirst mit mir kommen, Speranza; dich brauche ich bis zum Ende. Denn dafür wurde ich geboren, dafür hat mich Ishnazuyai aufgenommen. Ich werde die Welt erneuern.«
    Die Trommelschläge wurden schneller, und die Schamanen bliesen auf schrill klingenden Flöten, und die Frauen begannen zu singen und mit den Füßen zu stampfen. »Du bist verloren, Johnny Kindred …«, weinte sie und schlang in dem Wunsch, ihn zu beschützen, ihre Arme um ihn; sie presste ihn an ihren Busen, ohne sich um die Gefühle zu kümmern, die seine Nähe in ihr auslösten; sie küsste ihn immer wieder auf die Wangen, wie sie es damals mit dem armen Michael Bridgewater getan hatte, als er einsam und verlassen auf den Tod gewartet hatte und weder seine Diener noch seine Familie ihm nahe kommen wollten; sie hielt ihn so fest, als wollte sie ihn ersticken. In ihm war keine Wärme, keine Substanz; als hielte sie einen Geist, einen Schatten, kalte Luft in ihren Armen.
    »Glaube mir«, sagte Johnny. »Du musst mir glauben. Ich bin das Webmuster meiner dunklen Träume geworden.«

    Er drehte sich wieder zu dem unbezwingbaren Felsen um, hob die Arme und begann auf Lakota zu murmeln. Es wirkte auf Speranza, als riefe er den Himmel selbst an, oder vielleicht den Adler, der über ihnen kreiste.
    Dann wandte er sich den anderen zu und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Sie sammelten sich um ihn. Er zog sich nackt aus. Die anderen taten es ihm gleich. Speranza wunderte sich darüber, dass ihnen die Kälte nichts auszumachen schien. Er wirkte immer noch zerbrechlich, trug immer noch an Dutzenden Stellen die Narben von Claggarts Peitsche, aber sie bemerkte auch seine Stärke und Kraft.
    Er atmete tief ein.
    Diese Bäume … waren sie zuvor schon dagewesen? Sie blinzelte. Noch mehr Bäume. Kiefern schossen aus dem hohen Grama-Gras, der Himmel überzog sich mit einem Netz von Baumwipfeln, verdunkelte sich. Es ist der Wald aus meinen Albträumen, erkannte sie, er zieht den Traum um uns zusammen wie ein Netz, wie eine Henkersschlinge. Die Bäume wuchsen immer höher, der Boden erbebte, Risse taten sich im Boden auf, und aus ihnen wuchsen Koniferen, deren Stämme in den Himmel schossen, dem Dach der Welt entgegen - der Junge tanzte.
    Und sie sah den blutigen Fluss vom Plateau des Felsens herabfließen, und das Blut tropfte auf die Kinder der Wölfe, und der Regen selbst wurde zu Blut, und sie tanzten im herabregnenden Blut und tranken es und badeten sich darin und lachten und weinten vor Freude. Es war der Fluss aus ihrem Traum, es war die Quelle. Das Blut benetzte sie, und sie roch daran, und es roch nach einer läufigen Hündin und nach einer liebenden Frau und nach einer gebärenden Mutter.
    Blitze zuckten über die Baumwipfel! Der Himmel loderte! Und sie tanzten immer noch. Schwefelqualm stieg aus den Erdritzen auf. Sie tanzten. Und Weeping Wolf Rock selbst tanzte, der Stein stöhnte, als er sich wandelte, und sie sah, dass
der Felsen lebte, dass er atmete, dass er sich zum Rhythmus von Johnnys Lied bewegte. Und Johnny führte seine Gefolgsleute zum Fuß des Felsens, und als er sich an den Aufstieg machte, kniete sich der Felsen nieder, um ihm den Weg frei zu machen, er beugte sich, er neigte sich, um sich den Schritten der Tänzer anzupassen. Frauen und Kinder wanderten am Felsabhang entlang, ohne einmal fehlzutreten, ohne zu straucheln. Der Wald wuchs weiter, wurde dichter und dunkler.
    Johnny nahm Speranzas Hand. »Die Welt ist ein Traum.«
    Sie folgte ihm. Sie trat in die Luft, und der Felsen beeilte sich, ihren Schritt aufzufangen, bevor sie stürzte. Ein Felsspalt gähnte, und sie sprang, ohne in die Tiefe zu blicken, und ein Wirbelwind trug sie auf

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